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Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

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Des XVII. Hauptstücks. VII. Abschnitt.
59. §.

Jn einem italiänischen Recitativ, bindet sich der Sänger nicht
allemal an das Zeitmaaß, sondern hat die Freyheit, das was er vortra-
gen soll, nach eigenem Gutbefinden, und nachdem es die Worte erfodern,
langsam oder geschwind auszudrücken. Wenn nun die begleitenden Stim-
men dabey ein Accompagnement von haltenden Noten auszuführen haben;
so müssen sie den Sänger mehr nach dem Gehöre, und mit Discretion,
als nach dem Tacte, accompagniren. Besteht aber das Accompagne-
ment aus Noten die in das Zeitmaaß eingetheilet werden müssen: so ist
hingegen der Sänger verbunden, sich nach den begleitenden Stimmen zu
richten. Bisweilen wird das Accompagnement unterbrochen, so, daß
der Sänger dennoch Freyheit bekömmt, nach Willkühr zu recitiren; und
die begleitenden Stimmen fallen nur dann und wann ein, nämlich
bey den Einschnitten, wenn der Sänger eine Periode geendiget hat.
Hier müssen die Accompagnisten nicht warten, bis der Sänger die letzte
Sylbe ausgesprochen hat; sondern sie müssen schon unter der vorletzten
oder vorhaltenden Note einfallen; um die Lebhaftigkeit beständig zu un-
terhalten. Sofern aber die Violinen anstatt der Note im Niederschlage
eine kurze Pause haben, und der Baß eine Note vorschlägt; so muß der-
selbe mit einer Sicherheit und Kraft einfallen; besonders bey den Caden-
zen; denn hier kömmt es auf den Baß am meisten an. Dieser muß über-
haupt bey allen Cadenzen des thectralischen Recitativs, es mag ein mit
Violinen begleitetes, oder nur ein gemeines seyn, seine zwo Noten, wel-
che mehrentheils aus einem fallenden Quintensprunge bestehen, unter
der letzten Sylbe anfangen, und nicht zu langsam, sondern mit Lebhaf-
tigkeit anschlagen. Der Clavierist thut dieses durch ein vollstimmiges
Accompagnement; der Violoncellist und Contraviolonist aber durch einen
kurzen Druck mit dem untersten Theile des Bogens; sie wiederholen den
Strich, und nehmen beyde Noten rückwärts. Wenn in einem lebhaften
Recitativ die begleitenden Stimmen, bey den Einschnitten, laufende
oder sonst kurze Noten haben, welche präcipitant gespielet werden müssen:
und im Niederschlage eine Pause vorher steht: s. Tab. XXIII. Fig. 11.
so müssen auch hier die Accompagnisten nicht warten, bis der Sänger
die letzte Sylbe völlig ausgesprochen hat; sondern schon unter der
vorhaltenden Note anfangen: damit der feurige Affect bestän-
die unterhalten werde. Nicht zu gedenken daß sie auf diese Art
auch allezeit, zumal in einem weitläuftigen Orchester, genauer zusam-

men
Des XVII. Hauptſtuͤcks. VII. Abſchnitt.
59. §.

Jn einem italiaͤniſchen Recitativ, bindet ſich der Saͤnger nicht
allemal an das Zeitmaaß, ſondern hat die Freyheit, das was er vortra-
gen ſoll, nach eigenem Gutbefinden, und nachdem es die Worte erfodern,
langſam oder geſchwind auszudruͤcken. Wenn nun die begleitenden Stim-
men dabey ein Accompagnement von haltenden Noten auszufuͤhren haben;
ſo muͤſſen ſie den Saͤnger mehr nach dem Gehoͤre, und mit Discretion,
als nach dem Tacte, accompagniren. Beſteht aber das Accompagne-
ment aus Noten die in das Zeitmaaß eingetheilet werden muͤſſen: ſo iſt
hingegen der Saͤnger verbunden, ſich nach den begleitenden Stimmen zu
richten. Bisweilen wird das Accompagnement unterbrochen, ſo, daß
der Saͤnger dennoch Freyheit bekoͤmmt, nach Willkuͤhr zu recitiren; und
die begleitenden Stimmen fallen nur dann und wann ein, naͤmlich
bey den Einſchnitten, wenn der Saͤnger eine Periode geendiget hat.
Hier muͤſſen die Accompagniſten nicht warten, bis der Saͤnger die letzte
Sylbe ausgeſprochen hat; ſondern ſie muͤſſen ſchon unter der vorletzten
oder vorhaltenden Note einfallen; um die Lebhaftigkeit beſtaͤndig zu un-
terhalten. Sofern aber die Violinen anſtatt der Note im Niederſchlage
eine kurze Pauſe haben, und der Baß eine Note vorſchlaͤgt; ſo muß der-
ſelbe mit einer Sicherheit und Kraft einfallen; beſonders bey den Caden-
zen; denn hier koͤmmt es auf den Baß am meiſten an. Dieſer muß uͤber-
haupt bey allen Cadenzen des thectraliſchen Recitativs, es mag ein mit
Violinen begleitetes, oder nur ein gemeines ſeyn, ſeine zwo Noten, wel-
che mehrentheils aus einem fallenden Quintenſprunge beſtehen, unter
der letzten Sylbe anfangen, und nicht zu langſam, ſondern mit Lebhaf-
tigkeit anſchlagen. Der Clavieriſt thut dieſes durch ein vollſtimmiges
Accompagnement; der Violoncelliſt und Contravioloniſt aber durch einen
kurzen Druck mit dem unterſten Theile des Bogens; ſie wiederholen den
Strich, und nehmen beyde Noten ruͤckwaͤrts. Wenn in einem lebhaften
Recitativ die begleitenden Stimmen, bey den Einſchnitten, laufende
oder ſonſt kurze Noten haben, welche praͤcipitant geſpielet werden muͤſſen:
und im Niederſchlage eine Pauſe vorher ſteht: ſ. Tab. XXIII. Fig. 11.
ſo muͤſſen auch hier die Accompagniſten nicht warten, bis der Saͤnger
die letzte Sylbe voͤllig ausgeſprochen hat; ſondern ſchon unter der
vorhaltenden Note anfangen: damit der feurige Affect beſtaͤn-
die unterhalten werde. Nicht zu gedenken daß ſie auf dieſe Art
auch allezeit, zumal in einem weitlaͤuftigen Orcheſter, genauer zuſam-

men
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[272/0290] Des XVII. Hauptſtuͤcks. VII. Abſchnitt. 59. §. Jn einem italiaͤniſchen Recitativ, bindet ſich der Saͤnger nicht allemal an das Zeitmaaß, ſondern hat die Freyheit, das was er vortra- gen ſoll, nach eigenem Gutbefinden, und nachdem es die Worte erfodern, langſam oder geſchwind auszudruͤcken. Wenn nun die begleitenden Stim- men dabey ein Accompagnement von haltenden Noten auszufuͤhren haben; ſo muͤſſen ſie den Saͤnger mehr nach dem Gehoͤre, und mit Discretion, als nach dem Tacte, accompagniren. Beſteht aber das Accompagne- ment aus Noten die in das Zeitmaaß eingetheilet werden muͤſſen: ſo iſt hingegen der Saͤnger verbunden, ſich nach den begleitenden Stimmen zu richten. Bisweilen wird das Accompagnement unterbrochen, ſo, daß der Saͤnger dennoch Freyheit bekoͤmmt, nach Willkuͤhr zu recitiren; und die begleitenden Stimmen fallen nur dann und wann ein, naͤmlich bey den Einſchnitten, wenn der Saͤnger eine Periode geendiget hat. Hier muͤſſen die Accompagniſten nicht warten, bis der Saͤnger die letzte Sylbe ausgeſprochen hat; ſondern ſie muͤſſen ſchon unter der vorletzten oder vorhaltenden Note einfallen; um die Lebhaftigkeit beſtaͤndig zu un- terhalten. Sofern aber die Violinen anſtatt der Note im Niederſchlage eine kurze Pauſe haben, und der Baß eine Note vorſchlaͤgt; ſo muß der- ſelbe mit einer Sicherheit und Kraft einfallen; beſonders bey den Caden- zen; denn hier koͤmmt es auf den Baß am meiſten an. Dieſer muß uͤber- haupt bey allen Cadenzen des thectraliſchen Recitativs, es mag ein mit Violinen begleitetes, oder nur ein gemeines ſeyn, ſeine zwo Noten, wel- che mehrentheils aus einem fallenden Quintenſprunge beſtehen, unter der letzten Sylbe anfangen, und nicht zu langſam, ſondern mit Lebhaf- tigkeit anſchlagen. Der Clavieriſt thut dieſes durch ein vollſtimmiges Accompagnement; der Violoncelliſt und Contravioloniſt aber durch einen kurzen Druck mit dem unterſten Theile des Bogens; ſie wiederholen den Strich, und nehmen beyde Noten ruͤckwaͤrts. Wenn in einem lebhaften Recitativ die begleitenden Stimmen, bey den Einſchnitten, laufende oder ſonſt kurze Noten haben, welche praͤcipitant geſpielet werden muͤſſen: und im Niederſchlage eine Pauſe vorher ſteht: ſ. Tab. XXIII. Fig. 11. ſo muͤſſen auch hier die Accompagniſten nicht warten, bis der Saͤnger die letzte Sylbe voͤllig ausgeſprochen hat; ſondern ſchon unter der vorhaltenden Note anfangen: damit der feurige Affect beſtaͤn- die unterhalten werde. Nicht zu gedenken daß ſie auf dieſe Art auch allezeit, zumal in einem weitlaͤuftigen Orcheſter, genauer zuſam- men

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Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/290>, abgerufen am 24.04.2024.