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Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

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Das XVIII. Hauptstück. Wie ein Musikus
welcher von denen, die da singen oder spielen, der stärkste sey: gleich als ob
es möglich wäre, die Wissenschaft verschiedener Personen auf einmal zu
übersehen, und abzumessen; wie etwan gewisse Dinge, die nur ihren Werth
und Vorzug auf der Wagschaale erhalten. Dem nun, der auf solche
Art für den stärksten ausgegeben wird, höret man allein zu. Ein, öfters
mit Fleiß, von ihm nachläßig genug ausgeführtes, noch darzu nicht selten
sehr schlechtes Stück, wird als ein Wunderwerk ausposaunet: da hinge-
gen ein anderer, bey seinem möglichsten Fleiße, mit welchem er ein aus-
erlesenes Stück auszuführen sich bemühet, kaum einiger Augenblicke von
Aufmerksamkeit gewürdiget wird.

4. §.

Man gönnet selten einen Musikus die gehörige Zeit, seine Stärke
oder Schwäche zu zeigen. Man bedenket auch nicht, daß ein Musikus
nicht jederzeit im Stande ist, das was er versteht hören zu lassen: und
daß öfters der geringste Umstand ihn leicht aus aller seiner Gelassenheit
setzen kann: daß es folglich die Billigkeit erfodert, ihn mehr als einmal
zu hören, bevor man sein Urtheil über ihn fällen will. Mancher Mu-
sikus ist verwegen; und hat vielleicht ein Paar Stücke, worinn er seine
ganze Fähigkeit zeigen kann, und so zu sagen seine ganze Wissenschaft auf
einmal ausschüttet: daß man ihn also ein für allemal gehöret hat. Ein
anderer hingegen, der nicht so verwegen ist, und dessen Wissenschaft sich
auch nicht, wie bey jenem, in ein Paar Stücke einschränken läßt, hat
nicht denselben Vortheil. Denn die meisten Zuhörer übereilen sich leicht
in der Beurtheilung, und lassen sich durch das, was sie zum erstenmale
hören, gar zu sehr einnehmen. Hätten sie aber die Geduld und die Gele-
genheit einen jeden öfter zu hören: so würde es nicht allezeit einer großen
Einsicht brauchen; sondern man dürfte nur ohne Vorurtheil auf sein eige-
nes Gefühl Achtung geben, und sehen, welcher in der Folge das meiste
Vergnügen machte.

5. §.

Jn Ansehung der Composition geht es nicht besser. Man will nicht
gern für unwissend angesehen seyn; und doch fühlet man wohl, daß man
nicht allezeit recht zu entscheiden fähig seyn möchte. Deswegen pfleget
gemeiniglich die erste Frage diese zu seyn: von wem das Stück verferti-
get sey; um sich mit der Beurtheilung darnach richten zu können. Jst
nun das Stück von einem solchen, dem man schon im Voraus seinen Bey-
fall gewidmet hat; so wird es sogleich ohne Bedenken für schön erkläret.

Findet

Das XVIII. Hauptſtuͤck. Wie ein Muſikus
welcher von denen, die da ſingen oder ſpielen, der ſtaͤrkſte ſey: gleich als ob
es moͤglich waͤre, die Wiſſenſchaft verſchiedener Perſonen auf einmal zu
uͤberſehen, und abzumeſſen; wie etwan gewiſſe Dinge, die nur ihren Werth
und Vorzug auf der Wagſchaale erhalten. Dem nun, der auf ſolche
Art fuͤr den ſtaͤrkſten ausgegeben wird, hoͤret man allein zu. Ein, oͤfters
mit Fleiß, von ihm nachlaͤßig genug ausgefuͤhrtes, noch darzu nicht ſelten
ſehr ſchlechtes Stuͤck, wird als ein Wunderwerk auspoſaunet: da hinge-
gen ein anderer, bey ſeinem moͤglichſten Fleiße, mit welchem er ein aus-
erleſenes Stuͤck auszufuͤhren ſich bemuͤhet, kaum einiger Augenblicke von
Aufmerkſamkeit gewuͤrdiget wird.

4. §.

Man goͤnnet ſelten einen Muſikus die gehoͤrige Zeit, ſeine Staͤrke
oder Schwaͤche zu zeigen. Man bedenket auch nicht, daß ein Muſikus
nicht jederzeit im Stande iſt, das was er verſteht hoͤren zu laſſen: und
daß oͤfters der geringſte Umſtand ihn leicht aus aller ſeiner Gelaſſenheit
ſetzen kann: daß es folglich die Billigkeit erfodert, ihn mehr als einmal
zu hoͤren, bevor man ſein Urtheil uͤber ihn faͤllen will. Mancher Mu-
ſikus iſt verwegen; und hat vielleicht ein Paar Stuͤcke, worinn er ſeine
ganze Faͤhigkeit zeigen kann, und ſo zu ſagen ſeine ganze Wiſſenſchaft auf
einmal ausſchuͤttet: daß man ihn alſo ein fuͤr allemal gehoͤret hat. Ein
anderer hingegen, der nicht ſo verwegen iſt, und deſſen Wiſſenſchaft ſich
auch nicht, wie bey jenem, in ein Paar Stuͤcke einſchraͤnken laͤßt, hat
nicht denſelben Vortheil. Denn die meiſten Zuhoͤrer uͤbereilen ſich leicht
in der Beurtheilung, und laſſen ſich durch das, was ſie zum erſtenmale
hoͤren, gar zu ſehr einnehmen. Haͤtten ſie aber die Geduld und die Gele-
genheit einen jeden oͤfter zu hoͤren: ſo wuͤrde es nicht allezeit einer großen
Einſicht brauchen; ſondern man duͤrfte nur ohne Vorurtheil auf ſein eige-
nes Gefuͤhl Achtung geben, und ſehen, welcher in der Folge das meiſte
Vergnuͤgen machte.

5. §.

Jn Anſehung der Compoſition geht es nicht beſſer. Man will nicht
gern fuͤr unwiſſend angeſehen ſeyn; und doch fuͤhlet man wohl, daß man
nicht allezeit recht zu entſcheiden faͤhig ſeyn moͤchte. Deswegen pfleget
gemeiniglich die erſte Frage dieſe zu ſeyn: von wem das Stuͤck verferti-
get ſey; um ſich mit der Beurtheilung darnach richten zu koͤnnen. Jſt
nun das Stuͤck von einem ſolchen, dem man ſchon im Voraus ſeinen Bey-
fall gewidmet hat; ſo wird es ſogleich ohne Bedenken fuͤr ſchoͤn erklaͤret.

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[276/0294] Das XVIII. Hauptſtuͤck. Wie ein Muſikus welcher von denen, die da ſingen oder ſpielen, der ſtaͤrkſte ſey: gleich als ob es moͤglich waͤre, die Wiſſenſchaft verſchiedener Perſonen auf einmal zu uͤberſehen, und abzumeſſen; wie etwan gewiſſe Dinge, die nur ihren Werth und Vorzug auf der Wagſchaale erhalten. Dem nun, der auf ſolche Art fuͤr den ſtaͤrkſten ausgegeben wird, hoͤret man allein zu. Ein, oͤfters mit Fleiß, von ihm nachlaͤßig genug ausgefuͤhrtes, noch darzu nicht ſelten ſehr ſchlechtes Stuͤck, wird als ein Wunderwerk auspoſaunet: da hinge- gen ein anderer, bey ſeinem moͤglichſten Fleiße, mit welchem er ein aus- erleſenes Stuͤck auszufuͤhren ſich bemuͤhet, kaum einiger Augenblicke von Aufmerkſamkeit gewuͤrdiget wird. 4. §. Man goͤnnet ſelten einen Muſikus die gehoͤrige Zeit, ſeine Staͤrke oder Schwaͤche zu zeigen. Man bedenket auch nicht, daß ein Muſikus nicht jederzeit im Stande iſt, das was er verſteht hoͤren zu laſſen: und daß oͤfters der geringſte Umſtand ihn leicht aus aller ſeiner Gelaſſenheit ſetzen kann: daß es folglich die Billigkeit erfodert, ihn mehr als einmal zu hoͤren, bevor man ſein Urtheil uͤber ihn faͤllen will. Mancher Mu- ſikus iſt verwegen; und hat vielleicht ein Paar Stuͤcke, worinn er ſeine ganze Faͤhigkeit zeigen kann, und ſo zu ſagen ſeine ganze Wiſſenſchaft auf einmal ausſchuͤttet: daß man ihn alſo ein fuͤr allemal gehoͤret hat. Ein anderer hingegen, der nicht ſo verwegen iſt, und deſſen Wiſſenſchaft ſich auch nicht, wie bey jenem, in ein Paar Stuͤcke einſchraͤnken laͤßt, hat nicht denſelben Vortheil. Denn die meiſten Zuhoͤrer uͤbereilen ſich leicht in der Beurtheilung, und laſſen ſich durch das, was ſie zum erſtenmale hoͤren, gar zu ſehr einnehmen. Haͤtten ſie aber die Geduld und die Gele- genheit einen jeden oͤfter zu hoͤren: ſo wuͤrde es nicht allezeit einer großen Einſicht brauchen; ſondern man duͤrfte nur ohne Vorurtheil auf ſein eige- nes Gefuͤhl Achtung geben, und ſehen, welcher in der Folge das meiſte Vergnuͤgen machte. 5. §. Jn Anſehung der Compoſition geht es nicht beſſer. Man will nicht gern fuͤr unwiſſend angeſehen ſeyn; und doch fuͤhlet man wohl, daß man nicht allezeit recht zu entſcheiden faͤhig ſeyn moͤchte. Deswegen pfleget gemeiniglich die erſte Frage dieſe zu ſeyn: von wem das Stuͤck verferti- get ſey; um ſich mit der Beurtheilung darnach richten zu koͤnnen. Jſt nun das Stuͤck von einem ſolchen, dem man ſchon im Voraus ſeinen Bey- fall gewidmet hat; ſo wird es ſogleich ohne Bedenken fuͤr ſchoͤn erklaͤret. Findet

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Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/294>, abgerufen am 29.03.2024.