Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite

Das XVIII. Hauptstück. Wie ein Musikus
monie etwas zu verstehen, was Gescheides in dieser Art zu Wege zu
bringen.

48. §.

Soll ein Solo dem Componisten und dem Ausführer Ehre machen,
so muß: 1) das Adagio desselben an und vor sich singbar und ausdrü-
ckend seyn. 2) Der Ausführer muß Gelegenheit haben, seine Beurthei-
lungskraft, Erfindung, und Einsicht zu zeigen. 3) Die Zärtlichkeit muß
dann und wann mit etwas Geistreichem vermischet werden. 4) Man
setze eine natürliche Grundstimme, worüber leicht zu bauen ist. 5) Ein
Gedanke muß weder in demselben Tone, noch in der Transposition, zu
vielmal wiederholet werden: denn dieses würde nicht nur den Spieler mü-
de machen, sondern auch den Zuhörern einen Ekel erwecken können.
6) Der natürliche Gesang muß zuweilen mit einigen Dissonanzen unter-
brochen werden, um bey den Zuhörern die Leidenschaften gehörig zu erre-
gen. 7) Das Adagio muß nicht zu lang seyn.

49. §.

Das erste Allegro erfodert: 1) einen fließenden, an einander han-
genden, und etwas ernsthaften Gesang; 2) einen guten Zusammenhang
der Gedanken; 3) brillante, und mit Gesange wohl vereinigte Passa-
gien; 4) eine gute Ordnung in Wiederholung der Gedanken; 5) schöne
ausgesuchte Gänge zu Ende des ersten Theils, welche zugleich so einge-
richtet seyn müssen, daß man in der Transposition den letzten Theil wie-
der damit beschließen könne. 6) Der erste Theil muß etwas kürzer seyn
als der letzte. 7) Die brillantesten Passagien müssen in den letzten Theil
gebracht werden. 8) Die Grundstimme muß natürlich gesetzet seyn,
und solche Bewegungen machen, welche immer eine Lebhaftigkeit unter-
halten.

50. §.

Das zweyte Allegro kann entweder sehr lustig und geschwind,
oder moderat und arios seyn. Man muß sich deswegen nach dem ersten
richten. Jst dasselbe ernsthaft: so kann das letzte lustig seyn. Jst aber
das erste lebhaft und geschwind: so kann das letzte moderat und arios seyn.
Jn Ansehung der Verschiedenheit der Tactarten, muß das, was oben von
den Concerten gesaget worden ist, auch hier beobachtet werden: damit
nicht ein Satz dem andern ähnlich werde. Soll überhaupt ein Solo einem
jeden gefallen; so muß es so eingerichtet seyn, daß die Gemüthsneigun-
gen eines jeden Zuhörers darinne ihre Nahrung finden. Es muß weder

durch-

Das XVIII. Hauptſtuͤck. Wie ein Muſikus
monie etwas zu verſtehen, was Geſcheides in dieſer Art zu Wege zu
bringen.

48. §.

Soll ein Solo dem Componiſten und dem Ausfuͤhrer Ehre machen,
ſo muß: 1) das Adagio deſſelben an und vor ſich ſingbar und ausdruͤ-
ckend ſeyn. 2) Der Ausfuͤhrer muß Gelegenheit haben, ſeine Beurthei-
lungskraft, Erfindung, und Einſicht zu zeigen. 3) Die Zaͤrtlichkeit muß
dann und wann mit etwas Geiſtreichem vermiſchet werden. 4) Man
ſetze eine natuͤrliche Grundſtimme, woruͤber leicht zu bauen iſt. 5) Ein
Gedanke muß weder in demſelben Tone, noch in der Transpoſition, zu
vielmal wiederholet werden: denn dieſes wuͤrde nicht nur den Spieler muͤ-
de machen, ſondern auch den Zuhoͤrern einen Ekel erwecken koͤnnen.
6) Der natuͤrliche Geſang muß zuweilen mit einigen Diſſonanzen unter-
brochen werden, um bey den Zuhoͤrern die Leidenſchaften gehoͤrig zu erre-
gen. 7) Das Adagio muß nicht zu lang ſeyn.

49. §.

Das erſte Allegro erfodert: 1) einen fließenden, an einander han-
genden, und etwas ernſthaften Geſang; 2) einen guten Zuſammenhang
der Gedanken; 3) brillante, und mit Geſange wohl vereinigte Paſſa-
gien; 4) eine gute Ordnung in Wiederholung der Gedanken; 5) ſchoͤne
ausgeſuchte Gaͤnge zu Ende des erſten Theils, welche zugleich ſo einge-
richtet ſeyn muͤſſen, daß man in der Transpoſition den letzten Theil wie-
der damit beſchließen koͤnne. 6) Der erſte Theil muß etwas kuͤrzer ſeyn
als der letzte. 7) Die brillanteſten Paſſagien muͤſſen in den letzten Theil
gebracht werden. 8) Die Grundſtimme muß natuͤrlich geſetzet ſeyn,
und ſolche Bewegungen machen, welche immer eine Lebhaftigkeit unter-
halten.

50. §.

Das zweyte Allegro kann entweder ſehr luſtig und geſchwind,
oder moderat und arios ſeyn. Man muß ſich deswegen nach dem erſten
richten. Jſt daſſelbe ernſthaft: ſo kann das letzte luſtig ſeyn. Jſt aber
das erſte lebhaft und geſchwind: ſo kann das letzte moderat und arios ſeyn.
Jn Anſehung der Verſchiedenheit der Tactarten, muß das, was oben von
den Concerten geſaget worden iſt, auch hier beobachtet werden: damit
nicht ein Satz dem andern aͤhnlich werde. Soll uͤberhaupt ein Solo einem
jeden gefallen; ſo muß es ſo eingerichtet ſeyn, daß die Gemuͤthsneigun-
gen eines jeden Zuhoͤrers darinne ihre Nahrung finden. Es muß weder

durch-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0322" n="304"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">XVIII.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck. Wie ein Mu&#x017F;ikus</hi></fw><lb/>
monie etwas zu ver&#x017F;tehen, was Ge&#x017F;cheides in die&#x017F;er Art zu Wege zu<lb/>
bringen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>48. §.</head><lb/>
            <p>Soll ein Solo dem Componi&#x017F;ten und dem Ausfu&#x0364;hrer Ehre machen,<lb/>
&#x017F;o muß: 1) das <hi rendition="#fr">Adagio</hi> de&#x017F;&#x017F;elben an und vor &#x017F;ich &#x017F;ingbar und ausdru&#x0364;-<lb/>
ckend &#x017F;eyn. 2) Der Ausfu&#x0364;hrer muß Gelegenheit haben, &#x017F;eine Beurthei-<lb/>
lungskraft, Erfindung, und Ein&#x017F;icht zu zeigen. 3) Die Za&#x0364;rtlichkeit muß<lb/>
dann und wann mit etwas Gei&#x017F;treichem vermi&#x017F;chet werden. 4) Man<lb/>
&#x017F;etze eine natu&#x0364;rliche Grund&#x017F;timme, woru&#x0364;ber leicht zu bauen i&#x017F;t. 5) Ein<lb/>
Gedanke muß weder in dem&#x017F;elben Tone, noch in der Transpo&#x017F;ition, zu<lb/>
vielmal wiederholet werden: denn die&#x017F;es wu&#x0364;rde nicht nur den Spieler mu&#x0364;-<lb/>
de machen, &#x017F;ondern auch den Zuho&#x0364;rern einen Ekel erwecken ko&#x0364;nnen.<lb/>
6) Der natu&#x0364;rliche Ge&#x017F;ang muß zuweilen mit einigen Di&#x017F;&#x017F;onanzen unter-<lb/>
brochen werden, um bey den Zuho&#x0364;rern die Leiden&#x017F;chaften geho&#x0364;rig zu erre-<lb/>
gen. 7) Das Adagio muß nicht zu lang &#x017F;eyn.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>49. §.</head><lb/>
            <p>Das <hi rendition="#fr">er&#x017F;te Allegro</hi> erfodert: 1) einen fließenden, an einander han-<lb/>
genden, und etwas ern&#x017F;thaften Ge&#x017F;ang; 2) einen guten Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
der Gedanken; 3) brillante, und mit Ge&#x017F;ange wohl vereinigte Pa&#x017F;&#x017F;a-<lb/>
gien; 4) eine gute Ordnung in Wiederholung der Gedanken; 5) &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
ausge&#x017F;uchte Ga&#x0364;nge zu Ende des er&#x017F;ten Theils, welche zugleich &#x017F;o einge-<lb/>
richtet &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, daß man in der Transpo&#x017F;ition den letzten Theil wie-<lb/>
der damit be&#x017F;chließen ko&#x0364;nne. 6) Der er&#x017F;te Theil muß etwas ku&#x0364;rzer &#x017F;eyn<lb/>
als der letzte. 7) Die brillante&#x017F;ten Pa&#x017F;&#x017F;agien mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en in den letzten Theil<lb/>
gebracht werden. 8) Die Grund&#x017F;timme muß natu&#x0364;rlich ge&#x017F;etzet &#x017F;eyn,<lb/>
und &#x017F;olche Bewegungen machen, welche immer eine Lebhaftigkeit unter-<lb/>
halten.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>50. §.</head><lb/>
            <p>Das <hi rendition="#fr">zweyte Allegro</hi> kann entweder &#x017F;ehr lu&#x017F;tig und ge&#x017F;chwind,<lb/>
oder moderat und arios &#x017F;eyn. Man muß &#x017F;ich deswegen nach dem er&#x017F;ten<lb/>
richten. J&#x017F;t da&#x017F;&#x017F;elbe ern&#x017F;thaft: &#x017F;o kann das letzte lu&#x017F;tig &#x017F;eyn. J&#x017F;t aber<lb/>
das er&#x017F;te lebhaft und ge&#x017F;chwind: &#x017F;o kann das letzte moderat und arios &#x017F;eyn.<lb/>
Jn An&#x017F;ehung der Ver&#x017F;chiedenheit der Tactarten, muß das, was oben von<lb/>
den Concerten ge&#x017F;aget worden i&#x017F;t, auch hier beobachtet werden: damit<lb/>
nicht ein Satz dem andern a&#x0364;hnlich werde. Soll u&#x0364;berhaupt ein Solo einem<lb/>
jeden gefallen; &#x017F;o muß es &#x017F;o eingerichtet &#x017F;eyn, daß die Gemu&#x0364;thsneigun-<lb/>
gen eines jeden Zuho&#x0364;rers darinne ihre Nahrung finden. Es muß weder<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">durch-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[304/0322] Das XVIII. Hauptſtuͤck. Wie ein Muſikus monie etwas zu verſtehen, was Geſcheides in dieſer Art zu Wege zu bringen. 48. §. Soll ein Solo dem Componiſten und dem Ausfuͤhrer Ehre machen, ſo muß: 1) das Adagio deſſelben an und vor ſich ſingbar und ausdruͤ- ckend ſeyn. 2) Der Ausfuͤhrer muß Gelegenheit haben, ſeine Beurthei- lungskraft, Erfindung, und Einſicht zu zeigen. 3) Die Zaͤrtlichkeit muß dann und wann mit etwas Geiſtreichem vermiſchet werden. 4) Man ſetze eine natuͤrliche Grundſtimme, woruͤber leicht zu bauen iſt. 5) Ein Gedanke muß weder in demſelben Tone, noch in der Transpoſition, zu vielmal wiederholet werden: denn dieſes wuͤrde nicht nur den Spieler muͤ- de machen, ſondern auch den Zuhoͤrern einen Ekel erwecken koͤnnen. 6) Der natuͤrliche Geſang muß zuweilen mit einigen Diſſonanzen unter- brochen werden, um bey den Zuhoͤrern die Leidenſchaften gehoͤrig zu erre- gen. 7) Das Adagio muß nicht zu lang ſeyn. 49. §. Das erſte Allegro erfodert: 1) einen fließenden, an einander han- genden, und etwas ernſthaften Geſang; 2) einen guten Zuſammenhang der Gedanken; 3) brillante, und mit Geſange wohl vereinigte Paſſa- gien; 4) eine gute Ordnung in Wiederholung der Gedanken; 5) ſchoͤne ausgeſuchte Gaͤnge zu Ende des erſten Theils, welche zugleich ſo einge- richtet ſeyn muͤſſen, daß man in der Transpoſition den letzten Theil wie- der damit beſchließen koͤnne. 6) Der erſte Theil muß etwas kuͤrzer ſeyn als der letzte. 7) Die brillanteſten Paſſagien muͤſſen in den letzten Theil gebracht werden. 8) Die Grundſtimme muß natuͤrlich geſetzet ſeyn, und ſolche Bewegungen machen, welche immer eine Lebhaftigkeit unter- halten. 50. §. Das zweyte Allegro kann entweder ſehr luſtig und geſchwind, oder moderat und arios ſeyn. Man muß ſich deswegen nach dem erſten richten. Jſt daſſelbe ernſthaft: ſo kann das letzte luſtig ſeyn. Jſt aber das erſte lebhaft und geſchwind: ſo kann das letzte moderat und arios ſeyn. Jn Anſehung der Verſchiedenheit der Tactarten, muß das, was oben von den Concerten geſaget worden iſt, auch hier beobachtet werden: damit nicht ein Satz dem andern aͤhnlich werde. Soll uͤberhaupt ein Solo einem jeden gefallen; ſo muß es ſo eingerichtet ſeyn, daß die Gemuͤthsneigun- gen eines jeden Zuhoͤrers darinne ihre Nahrung finden. Es muß weder durch-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/322
Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/322>, abgerufen am 24.04.2024.