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Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

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Das XVIII. Hauptstück. Wie ein Musikus
Hauptsache: so daß manche Arie, die mit dem Vorigen nicht den gehöri-
gen Zusammenhang hat, nur von ohngefähr eingeschoben zu seyn scheint.
Manchmal mag es einigen Dichtern wohl an der Beurtheilung oder an
der Empfindung gefehlet haben: zuweilen aber kann es seyn, daß sie dem
Componisten zu Gefallen, und nach gewissen Nebenabsichten haben dich-
ten müssen: wenn nämlich die Worte nicht bequem in die Musik zu brin-
gen gewesen sind; woran der Poet Schuld ist; oder wenn etwan der Com-
ponist eine Arie schon fertig hat, deren Worte sich nicht an den Ort, wo
sie hinkommen soll, schicken, und der Dichter also eine Parodie darüber
machen muß; welche freylich nicht allemal zum besten geräth. Biswei-
len müssen sich die Dichter nur bemühen, Worte mit solchen Selbstlau-
tern ausfündig zu machen, die sich gut zu Passagien schicken: wodurch
denn, wenn die Dichter nicht reich an Veränderung der Gedanken und
der Ausdrücke sind, dem Zusammenhange der Sache, und der Schön-
heit der Poesie, freylich nicht allezeit gerathen wird. Doch wird man
wahrnehmen, daß die großen Operndichter, den einzigen Metastasio
ausgenommen, gemeiniglich bey Weitem nicht so bequeme Arien zur Mu-
sik machen, als die mittelmäßigen. Diese müssen sich dem Componisten
wohl bequemen, wenn sie anders fortkommen wollen: jene aber wollen
sich, auch öfters nicht einmal in billigen und nothwendigen Stücken, zum
Vortheile der Musik, von ihrer vermeynten Höhe herab lassen: ob es
gleich gar wohl möglich ist, daß die Poesie und Musik sich mit einander
so vereinigen können, daß keine dabey zu kurz komme; wie nur noch erst
kürzlich, in einem eigenen deutschen Werke: von der musikalischen
Poesie,
mit besonderer Gründlichkeit ist gezeiget worden.

69. §.

Die Franzosen legen den Jtaliänern, nicht ganz und gar ohne Grund,
zur Last, daß sie in den Arien, ohne Unterschied, zu viel Passagien an-
bringen. Es ist zwar wahr, daß wenn es der Sinn der Worte erlau-
bet, und der Sänger die Fähigkeit besitzt, Passagien lebhaft, egal, rund,
und deutlich heraus zu bringen, die Passagien eine ausnehmende Zierde
im Singen sind. Es ist aber auch nicht zu läugnen, daß die Jtaliäner
hierinne bisweilen zu weit gehen, und weder einen Unterschied der Wor-
te, noch der Sänger machen; sondern nur mehrentheils der hergebrach-
ten Gewohnheit, ohne Beurtheilung, nachgehen. Die Passagien mögen
wohl Anfangs, einigen guten Sängern zu Gefallen, so häufig eingefüh-
ret worden seyn, um die Geschiklichkeit ihrer Kehle zu zeigen. Es ist

aber

Das XVIII. Hauptſtuͤck. Wie ein Muſikus
Hauptſache: ſo daß manche Arie, die mit dem Vorigen nicht den gehoͤri-
gen Zuſammenhang hat, nur von ohngefaͤhr eingeſchoben zu ſeyn ſcheint.
Manchmal mag es einigen Dichtern wohl an der Beurtheilung oder an
der Empfindung gefehlet haben: zuweilen aber kann es ſeyn, daß ſie dem
Componiſten zu Gefallen, und nach gewiſſen Nebenabſichten haben dich-
ten muͤſſen: wenn naͤmlich die Worte nicht bequem in die Muſik zu brin-
gen geweſen ſind; woran der Poet Schuld iſt; oder wenn etwan der Com-
poniſt eine Arie ſchon fertig hat, deren Worte ſich nicht an den Ort, wo
ſie hinkommen ſoll, ſchicken, und der Dichter alſo eine Parodie daruͤber
machen muß; welche freylich nicht allemal zum beſten geraͤth. Biswei-
len muͤſſen ſich die Dichter nur bemuͤhen, Worte mit ſolchen Selbſtlau-
tern ausfuͤndig zu machen, die ſich gut zu Paſſagien ſchicken: wodurch
denn, wenn die Dichter nicht reich an Veraͤnderung der Gedanken und
der Ausdruͤcke ſind, dem Zuſammenhange der Sache, und der Schoͤn-
heit der Poeſie, freylich nicht allezeit gerathen wird. Doch wird man
wahrnehmen, daß die großen Operndichter, den einzigen Metaſtaſio
ausgenommen, gemeiniglich bey Weitem nicht ſo bequeme Arien zur Mu-
ſik machen, als die mittelmaͤßigen. Dieſe muͤſſen ſich dem Componiſten
wohl bequemen, wenn ſie anders fortkommen wollen: jene aber wollen
ſich, auch oͤfters nicht einmal in billigen und nothwendigen Stuͤcken, zum
Vortheile der Muſik, von ihrer vermeynten Hoͤhe herab laſſen: ob es
gleich gar wohl moͤglich iſt, daß die Poeſie und Muſik ſich mit einander
ſo vereinigen koͤnnen, daß keine dabey zu kurz komme; wie nur noch erſt
kuͤrzlich, in einem eigenen deutſchen Werke: von der muſikaliſchen
Poeſie,
mit beſonderer Gruͤndlichkeit iſt gezeiget worden.

69. §.

Die Franzoſen legen den Jtaliaͤnern, nicht ganz und gar ohne Grund,
zur Laſt, daß ſie in den Arien, ohne Unterſchied, zu viel Paſſagien an-
bringen. Es iſt zwar wahr, daß wenn es der Sinn der Worte erlau-
bet, und der Saͤnger die Faͤhigkeit beſitzt, Paſſagien lebhaft, egal, rund,
und deutlich heraus zu bringen, die Paſſagien eine ausnehmende Zierde
im Singen ſind. Es iſt aber auch nicht zu laͤugnen, daß die Jtaliaͤner
hierinne bisweilen zu weit gehen, und weder einen Unterſchied der Wor-
te, noch der Saͤnger machen; ſondern nur mehrentheils der hergebrach-
ten Gewohnheit, ohne Beurtheilung, nachgehen. Die Paſſagien moͤgen
wohl Anfangs, einigen guten Saͤngern zu Gefallen, ſo haͤufig eingefuͤh-
ret worden ſeyn, um die Geſchiklichkeit ihrer Kehle zu zeigen. Es iſt

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[318/0336] Das XVIII. Hauptſtuͤck. Wie ein Muſikus Hauptſache: ſo daß manche Arie, die mit dem Vorigen nicht den gehoͤri- gen Zuſammenhang hat, nur von ohngefaͤhr eingeſchoben zu ſeyn ſcheint. Manchmal mag es einigen Dichtern wohl an der Beurtheilung oder an der Empfindung gefehlet haben: zuweilen aber kann es ſeyn, daß ſie dem Componiſten zu Gefallen, und nach gewiſſen Nebenabſichten haben dich- ten muͤſſen: wenn naͤmlich die Worte nicht bequem in die Muſik zu brin- gen geweſen ſind; woran der Poet Schuld iſt; oder wenn etwan der Com- poniſt eine Arie ſchon fertig hat, deren Worte ſich nicht an den Ort, wo ſie hinkommen ſoll, ſchicken, und der Dichter alſo eine Parodie daruͤber machen muß; welche freylich nicht allemal zum beſten geraͤth. Biswei- len muͤſſen ſich die Dichter nur bemuͤhen, Worte mit ſolchen Selbſtlau- tern ausfuͤndig zu machen, die ſich gut zu Paſſagien ſchicken: wodurch denn, wenn die Dichter nicht reich an Veraͤnderung der Gedanken und der Ausdruͤcke ſind, dem Zuſammenhange der Sache, und der Schoͤn- heit der Poeſie, freylich nicht allezeit gerathen wird. Doch wird man wahrnehmen, daß die großen Operndichter, den einzigen Metaſtaſio ausgenommen, gemeiniglich bey Weitem nicht ſo bequeme Arien zur Mu- ſik machen, als die mittelmaͤßigen. Dieſe muͤſſen ſich dem Componiſten wohl bequemen, wenn ſie anders fortkommen wollen: jene aber wollen ſich, auch oͤfters nicht einmal in billigen und nothwendigen Stuͤcken, zum Vortheile der Muſik, von ihrer vermeynten Hoͤhe herab laſſen: ob es gleich gar wohl moͤglich iſt, daß die Poeſie und Muſik ſich mit einander ſo vereinigen koͤnnen, daß keine dabey zu kurz komme; wie nur noch erſt kuͤrzlich, in einem eigenen deutſchen Werke: von der muſikaliſchen Poeſie, mit beſonderer Gruͤndlichkeit iſt gezeiget worden. 69. §. Die Franzoſen legen den Jtaliaͤnern, nicht ganz und gar ohne Grund, zur Laſt, daß ſie in den Arien, ohne Unterſchied, zu viel Paſſagien an- bringen. Es iſt zwar wahr, daß wenn es der Sinn der Worte erlau- bet, und der Saͤnger die Faͤhigkeit beſitzt, Paſſagien lebhaft, egal, rund, und deutlich heraus zu bringen, die Paſſagien eine ausnehmende Zierde im Singen ſind. Es iſt aber auch nicht zu laͤugnen, daß die Jtaliaͤner hierinne bisweilen zu weit gehen, und weder einen Unterſchied der Wor- te, noch der Saͤnger machen; ſondern nur mehrentheils der hergebrach- ten Gewohnheit, ohne Beurtheilung, nachgehen. Die Paſſagien moͤgen wohl Anfangs, einigen guten Saͤngern zu Gefallen, ſo haͤufig eingefuͤh- ret worden ſeyn, um die Geſchiklichkeit ihrer Kehle zu zeigen. Es iſt aber

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Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/336>, abgerufen am 25.04.2024.