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Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

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Zeit, den französischen Schimmer mit der italiänischen Schmeicheley zu vermischen, fähig werden, und eine um so viel gefälligere Art zu spielen erlangen.

66. §.

Die französische Art zu singen ist so beschaffen, daß dadurch nicht, wie bey den Italiänern, große Virtuosen können gezogen werden. Sie erschöpfet das Vermögen der menschlichen Stimme bey Weitem nicht. Ihre Arien sind mehr redend als singend. Sie erfodern fast mehr Fertigkeit der Zunge, im Sprechen der Wörter, als Geschiklichkeit der Kehle. Der Zusatz der Manieren wird von dem Componisten vorgeschrieben: folglich haben die Ausführer nicht nöthig die Harmonie zu verstehen. Die Passagien sind bey ihnen im Singen fast gar nicht üblich: weil sie vorgeben daß ihre Sprache dieselben nicht erlaube. Die Arien werden mehrentheils, wegen Mangels der guten Sänger, so gesetzet, daß sie ein jeder, wer nur will, nachsingen kann: welches zwar solchen Liebhabern der Musik, die nicht viel davon verstehen, ein Vergnügen machet; den Sängern aber keinen sonderlichen Vorzug giebt. Es bleibt ihren Sängern nichts besonderes eigen, als die gute Action, welche sie vor andern Völkern voraus haben.

67. §.

In der Composition verfahren die Franzosen sehr gewissenhaft. In ihren Kirchenmusiken findet man zwar mehr Bescheidenheit, aber auch mehr Trockenheit, als in den italiänischen. Sie lieben die natürlichen Gänge mehr, als die chromatischen. In der Melodie sind sie treuherziger als die Italiäner; denn man kann die Folge der Gedanken fast immer errathen: an Erfindungen aber sind sie nicht so reich als jene. Sie sehen mehr auf den Ausdruck der Wörter, als auf einen reizenden oder schmeichelnden Gesang. So wie die Italiäner die Schönheit der Composition, größten Theils, nur in der Hauptstimme anzubringen suchen; wodurch zwar die Grundstimme dann und wann verabsäumet wird: so legen hingegen die Franzosen meistentheils mehr Schimmer in die Grundstimme, als in die Hauptstimme. Ihr Accompagnement ist mehr simpel, als erhaben. Ihr Recitativ singt zu viel, die Arien hingegen zu wenig: weswegen man in einer Oper nicht allemal errathen kann, ob man ein Recitativ oder ein Arioso höre. Wofern auf ein französisches Recitativ eine zärtliche Arie folget, wird man ganz und gar eingeschläfert, und verliert alle Aufmerksamkeit: da doch der Entzweck einer Oper

Zeit, den französischen Schimmer mit der italiänischen Schmeicheley zu vermischen, fähig werden, und eine um so viel gefälligere Art zu spielen erlangen.

66. §.

Die französische Art zu singen ist so beschaffen, daß dadurch nicht, wie bey den Italiänern, große Virtuosen können gezogen werden. Sie erschöpfet das Vermögen der menschlichen Stimme bey Weitem nicht. Ihre Arien sind mehr redend als singend. Sie erfodern fast mehr Fertigkeit der Zunge, im Sprechen der Wörter, als Geschiklichkeit der Kehle. Der Zusatz der Manieren wird von dem Componisten vorgeschrieben: folglich haben die Ausführer nicht nöthig die Harmonie zu verstehen. Die Passagien sind bey ihnen im Singen fast gar nicht üblich: weil sie vorgeben daß ihre Sprache dieselben nicht erlaube. Die Arien werden mehrentheils, wegen Mangels der guten Sänger, so gesetzet, daß sie ein jeder, wer nur will, nachsingen kann: welches zwar solchen Liebhabern der Musik, die nicht viel davon verstehen, ein Vergnügen machet; den Sängern aber keinen sonderlichen Vorzug giebt. Es bleibt ihren Sängern nichts besonderes eigen, als die gute Action, welche sie vor andern Völkern voraus haben.

67. §.

In der Composition verfahren die Franzosen sehr gewissenhaft. In ihren Kirchenmusiken findet man zwar mehr Bescheidenheit, aber auch mehr Trockenheit, als in den italiänischen. Sie lieben die natürlichen Gänge mehr, als die chromatischen. In der Melodie sind sie treuherziger als die Italiäner; denn man kann die Folge der Gedanken fast immer errathen: an Erfindungen aber sind sie nicht so reich als jene. Sie sehen mehr auf den Ausdruck der Wörter, als auf einen reizenden oder schmeichelnden Gesang. So wie die Italiäner die Schönheit der Composition, größten Theils, nur in der Hauptstimme anzubringen suchen; wodurch zwar die Grundstimme dann und wann verabsäumet wird: so legen hingegen die Franzosen meistentheils mehr Schimmer in die Grundstimme, als in die Hauptstimme. Ihr Accompagnement ist mehr simpel, als erhaben. Ihr Recitativ singt zu viel, die Arien hingegen zu wenig: weswegen man in einer Oper nicht allemal errathen kann, ob man ein Recitativ oder ein Arioso höre. Wofern auf ein französisches Recitativ eine zärtliche Arie folget, wird man ganz und gar eingeschläfert, und verliert alle Aufmerksamkeit: da doch der Entzweck einer Oper

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[316/0330] Zeit, den französischen Schimmer mit der italiänischen Schmeicheley zu vermischen, fähig werden, und eine um so viel gefälligere Art zu spielen erlangen. 66. §. Die französische Art zu singen ist so beschaffen, daß dadurch nicht, wie bey den Italiänern, große Virtuosen können gezogen werden. Sie erschöpfet das Vermögen der menschlichen Stimme bey Weitem nicht. Ihre Arien sind mehr redend als singend. Sie erfodern fast mehr Fertigkeit der Zunge, im Sprechen der Wörter, als Geschiklichkeit der Kehle. Der Zusatz der Manieren wird von dem Componisten vorgeschrieben: folglich haben die Ausführer nicht nöthig die Harmonie zu verstehen. Die Passagien sind bey ihnen im Singen fast gar nicht üblich: weil sie vorgeben daß ihre Sprache dieselben nicht erlaube. Die Arien werden mehrentheils, wegen Mangels der guten Sänger, so gesetzet, daß sie ein jeder, wer nur will, nachsingen kann: welches zwar solchen Liebhabern der Musik, die nicht viel davon verstehen, ein Vergnügen machet; den Sängern aber keinen sonderlichen Vorzug giebt. Es bleibt ihren Sängern nichts besonderes eigen, als die gute Action, welche sie vor andern Völkern voraus haben. 67. §. In der Composition verfahren die Franzosen sehr gewissenhaft. In ihren Kirchenmusiken findet man zwar mehr Bescheidenheit, aber auch mehr Trockenheit, als in den italiänischen. Sie lieben die natürlichen Gänge mehr, als die chromatischen. In der Melodie sind sie treuherziger als die Italiäner; denn man kann die Folge der Gedanken fast immer errathen: an Erfindungen aber sind sie nicht so reich als jene. Sie sehen mehr auf den Ausdruck der Wörter, als auf einen reizenden oder schmeichelnden Gesang. So wie die Italiäner die Schönheit der Composition, größten Theils, nur in der Hauptstimme anzubringen suchen; wodurch zwar die Grundstimme dann und wann verabsäumet wird: so legen hingegen die Franzosen meistentheils mehr Schimmer in die Grundstimme, als in die Hauptstimme. Ihr Accompagnement ist mehr simpel, als erhaben. Ihr Recitativ singt zu viel, die Arien hingegen zu wenig: weswegen man in einer Oper nicht allemal errathen kann, ob man ein Recitativ oder ein Arioso höre. Wofern auf ein französisches Recitativ eine zärtliche Arie folget, wird man ganz und gar eingeschläfert, und verliert alle Aufmerksamkeit: da doch der Entzweck einer Oper

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Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuchws_1752/330>, abgerufen am 25.04.2024.