Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite
Das XVIII. Hauptstück.
Wie ein Musikus und eine Musik zu beurtheilen sey.
1. §.

Es ist wohl keine Wissenschaft jedermanns Urtheile so sehr unterworfen, als die Musik. Es scheint als ob nichts leichter wäre, als dieselbe zu beurtheilen. Nicht nur ein jeder Musikus, sondern auch ein jeder der sich für einen Liebhaber derselben ausgiebt, will zugleich für einen Richter dessen, was er höret, angesehen seyn.

2. §.

Man begnüget sich nicht allemal, wenn ein jeder von denen, welche sich hören lassen, das, was in seinen Kräften steht, hervor zu bringen bemühet ist: sondern man verlanget oftmals mehr zu hören, als man selbst niemals zu hören gewohnt gewesen ist. Singen oder spielen in einer Versammlung nicht alle in gleicher Vollkommenheit: so leget man oftmals nur einem allen Vorzug bey, und hält alle andern für gering; ohne zu bedenken, daß der eine in dieser, der andere in jener Art, z. E. einer im Adagio, der andere im Allegro, seine Verdienste haben könne. Man erwägt nicht, daß die Annehmlichkeit der Musik, nicht in der Gleichheit oder Aehnlichkeit, sondern in der Verschiedenheit bestehe. Wenn es möglich wäre, daß alle Tonkünstler, in gleicher Stärke, und in gleichem Geschmacke singen oder spielen könnten; so würde, wegen Mangels einer angenehmen Abwechselung, der größte Theil des Vergnügens an der Musik nicht empfunden werden.

3. §.

Man richtet sich selten nach seiner eigenen Empfindung; welches doch noch das sicherste wäre: sondern man ist nur gleich begierig zu vernehmen,

Das XVIII. Hauptstück.
Wie ein Musikus und eine Musik zu beurtheilen sey.
1. §.

Es ist wohl keine Wissenschaft jedermanns Urtheile so sehr unterworfen, als die Musik. Es scheint als ob nichts leichter wäre, als dieselbe zu beurtheilen. Nicht nur ein jeder Musikus, sondern auch ein jeder der sich für einen Liebhaber derselben ausgiebt, will zugleich für einen Richter dessen, was er höret, angesehen seyn.

2. §.

Man begnüget sich nicht allemal, wenn ein jeder von denen, welche sich hören lassen, das, was in seinen Kräften steht, hervor zu bringen bemühet ist: sondern man verlanget oftmals mehr zu hören, als man selbst niemals zu hören gewohnt gewesen ist. Singen oder spielen in einer Versammlung nicht alle in gleicher Vollkommenheit: so leget man oftmals nur einem allen Vorzug bey, und hält alle andern für gering; ohne zu bedenken, daß der eine in dieser, der andere in jener Art, z. E. einer im Adagio, der andere im Allegro, seine Verdienste haben könne. Man erwägt nicht, daß die Annehmlichkeit der Musik, nicht in der Gleichheit oder Aehnlichkeit, sondern in der Verschiedenheit bestehe. Wenn es möglich wäre, daß alle Tonkünstler, in gleicher Stärke, und in gleichem Geschmacke singen oder spielen könnten; so würde, wegen Mangels einer angenehmen Abwechselung, der größte Theil des Vergnügens an der Musik nicht empfunden werden.

3. §.

Man richtet sich selten nach seiner eigenen Empfindung; welches doch noch das sicherste wäre: sondern man ist nur gleich begierig zu vernehmen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0289" n="275"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#fr">Das XVIII. Hauptstück.</hi> </head><lb/>
          <head> <hi rendition="#fr">Wie ein Musikus und eine Musik zu beurtheilen sey.</hi> </head><lb/>
          <div n="3">
            <head>1. §.</head><lb/>
            <p>Es ist wohl keine Wissenschaft jedermanns Urtheile so sehr unterworfen, als die Musik. Es scheint als ob nichts leichter wäre, als dieselbe zu beurtheilen. Nicht nur ein jeder Musikus, sondern auch ein jeder der sich für einen Liebhaber derselben ausgiebt, will zugleich für einen Richter dessen, was er höret, angesehen seyn.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <head>2. §.</head><lb/>
            <p>Man begnüget sich nicht allemal, wenn ein jeder von denen, welche sich hören lassen, das, was in seinen Kräften steht, hervor zu bringen bemühet ist: sondern man verlanget oftmals mehr zu hören, als man selbst niemals zu hören gewohnt gewesen ist. Singen oder spielen in einer Versammlung nicht alle in gleicher Vollkommenheit: so leget man oftmals nur einem allen Vorzug bey, und hält alle andern für gering; ohne zu bedenken, daß der eine in dieser, der andere in jener Art, z. E. einer im Adagio, der andere im Allegro, seine Verdienste haben könne. Man erwägt nicht, daß die Annehmlichkeit der Musik, nicht in der Gleichheit oder Aehnlichkeit, sondern in der Verschiedenheit bestehe. Wenn es möglich wäre, daß alle Tonkünstler, in gleicher Stärke, und in gleichem Geschmacke singen oder spielen könnten; so würde, wegen Mangels einer angenehmen Abwechselung, der größte Theil des Vergnügens an der Musik nicht empfunden werden.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <head>3. §.</head><lb/>
            <p>Man richtet sich selten nach seiner eigenen Empfindung; welches doch noch das sicherste wäre: sondern man ist nur gleich begierig zu vernehmen,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[275/0289] Das XVIII. Hauptstück. Wie ein Musikus und eine Musik zu beurtheilen sey. 1. §. Es ist wohl keine Wissenschaft jedermanns Urtheile so sehr unterworfen, als die Musik. Es scheint als ob nichts leichter wäre, als dieselbe zu beurtheilen. Nicht nur ein jeder Musikus, sondern auch ein jeder der sich für einen Liebhaber derselben ausgiebt, will zugleich für einen Richter dessen, was er höret, angesehen seyn. 2. §. Man begnüget sich nicht allemal, wenn ein jeder von denen, welche sich hören lassen, das, was in seinen Kräften steht, hervor zu bringen bemühet ist: sondern man verlanget oftmals mehr zu hören, als man selbst niemals zu hören gewohnt gewesen ist. Singen oder spielen in einer Versammlung nicht alle in gleicher Vollkommenheit: so leget man oftmals nur einem allen Vorzug bey, und hält alle andern für gering; ohne zu bedenken, daß der eine in dieser, der andere in jener Art, z. E. einer im Adagio, der andere im Allegro, seine Verdienste haben könne. Man erwägt nicht, daß die Annehmlichkeit der Musik, nicht in der Gleichheit oder Aehnlichkeit, sondern in der Verschiedenheit bestehe. Wenn es möglich wäre, daß alle Tonkünstler, in gleicher Stärke, und in gleichem Geschmacke singen oder spielen könnten; so würde, wegen Mangels einer angenehmen Abwechselung, der größte Theil des Vergnügens an der Musik nicht empfunden werden. 3. §. Man richtet sich selten nach seiner eigenen Empfindung; welches doch noch das sicherste wäre: sondern man ist nur gleich begierig zu vernehmen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-30T10:17:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-30T10:17:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-30T10:17:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuchws_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuchws_1752/289
Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuchws_1752/289>, abgerufen am 28.03.2024.