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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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zen Haare der Mutter greifend, daß die Steine darin
blitzen und funkeln. -- -- Jetzt läuft ein Schauer über
den kleinen Körper -- -- --

"Vorüber!" -- sagt der alte Doctor dumpf, mir
die Hand drückend. -- --

Frau Anna und eine Nachbarin blieben die Nacht
bei der armen, bewußtlosen Mutter. --



Gestern Nachmittag begannen die schweren Regen-
wolken, die wochenlang über der großen Stadt gehan-
gen hatten, sich zu heben. Sie zerrissen im Norden
wie ein Vorhang und wälzten sich langsam und schwer-
fällig dem Süden zu. Ein Sonnenstrahl glitt pfeil-
schnell über die Fenster und Wände mir gegenüber, um
eben so schnell zu schwinden; ein anderer von etwas
längerer Dauer folgte ihm, und jetzt liegt der prächtigste
Frühlingssonnenschein auf den Dächern und in den Stra-
ßen der Stadt. Wahrlich, jetzt gleicht die Stadt nicht
mehr einem scheuergeplagten Ehemann; sie gleicht viel-
mehr seiner bessern Hälfte, die nun ihre Pflicht gethan
zu haben meint, erschöpft auf einen Stuhl zum Kaffee-

zen Haare der Mutter greifend, daß die Steine darin
blitzen und funkeln. — — Jetzt läuft ein Schauer über
den kleinen Körper — — —

„Vorüber!“ — ſagt der alte Doctor dumpf, mir
die Hand drückend. — —

Frau Anna und eine Nachbarin blieben die Nacht
bei der armen, bewußtloſen Mutter. —



Geſtern Nachmittag begannen die ſchweren Regen-
wolken, die wochenlang über der großen Stadt gehan-
gen hatten, ſich zu heben. Sie zerriſſen im Norden
wie ein Vorhang und wälzten ſich langſam und ſchwer-
fällig dem Süden zu. Ein Sonnenſtrahl glitt pfeil-
ſchnell über die Fenſter und Wände mir gegenüber, um
eben ſo ſchnell zu ſchwinden; ein anderer von etwas
längerer Dauer folgte ihm, und jetzt liegt der prächtigſte
Frühlingsſonnenſchein auf den Dächern und in den Stra-
ßen der Stadt. Wahrlich, jetzt gleicht die Stadt nicht
mehr einem ſcheuergeplagten Ehemann; ſie gleicht viel-
mehr ſeiner beſſern Hälfte, die nun ihre Pflicht gethan
zu haben meint, erſchöpft auf einen Stuhl zum Kaffee-

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[189/0199] zen Haare der Mutter greifend, daß die Steine darin blitzen und funkeln. — — Jetzt läuft ein Schauer über den kleinen Körper — — — „Vorüber!“ — ſagt der alte Doctor dumpf, mir die Hand drückend. — — Frau Anna und eine Nachbarin blieben die Nacht bei der armen, bewußtloſen Mutter. — Am 7. März. — Geſtern Nachmittag begannen die ſchweren Regen- wolken, die wochenlang über der großen Stadt gehan- gen hatten, ſich zu heben. Sie zerriſſen im Norden wie ein Vorhang und wälzten ſich langſam und ſchwer- fällig dem Süden zu. Ein Sonnenſtrahl glitt pfeil- ſchnell über die Fenſter und Wände mir gegenüber, um eben ſo ſchnell zu ſchwinden; ein anderer von etwas längerer Dauer folgte ihm, und jetzt liegt der prächtigſte Frühlingsſonnenſchein auf den Dächern und in den Stra- ßen der Stadt. Wahrlich, jetzt gleicht die Stadt nicht mehr einem ſcheuergeplagten Ehemann; ſie gleicht viel- mehr ſeiner beſſern Hälfte, die nun ihre Pflicht gethan zu haben meint, erſchöpft auf einen Stuhl zum Kaffee-

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/199>, abgerufen am 25.04.2024.