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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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dort liegt auf der weißen Decke des Pflasters ein ver-
lorner Tannenzweig. Es wird viel Goldschaum verkauft,
und bedeckte Platten von Eisenblech, die vorbeigetragen
werden, verbreiten einen wundervollen Duft. -- --

"Was ist ein echter Hamburger Seelöwe?" fragte
Strobel, der bei mir eintrat und beim Abnehmen des
Hutes ein Miniaturschneegestöber hervor brachte.

"Ein Hamburger Seelöwe?" fragte ich verwundert.
"Doch nicht etwa ein Mitglied des Raths der Ober-
alten?"

"Beinahe," lachte der Zeichner. "Ein Hamburger
Seelöwe ist eine Hasenpfote, auf welche oben ein men-
schenähnliches Gesicht geleimt ist. Ein solches Indivi-
duum versteht an einem Tischrande gar anmuthige Be-
wegungen zu machen. Sehen sie hier!"

Dabei zog er den Gegenstand unsres Gesprächs her-
vor, hing ihn an meinen Schreibtisch und brachte ihn
durch eine Art Pendel in Bewegung.

"Ist das nicht eine wundervolle Erfindung?"

"Prächtig," sagte ich, -- "in meiner Jugend brachte
man aber denselben Effect durch den abgenagten Brust-
knochen eines Gänsebratens, in welchen man eine Gabel
steckte, hervor, aber die Cultur muß ja fortschreiten."

"Ja, die Kultur schreitet fort!" seufzte der Zeichner.
"Sogar die einfachen Tannen machen allmählich diesen

dort liegt auf der weißen Decke des Pflaſters ein ver-
lorner Tannenzweig. Es wird viel Goldſchaum verkauft,
und bedeckte Platten von Eiſenblech, die vorbeigetragen
werden, verbreiten einen wundervollen Duft. — —

„Was iſt ein echter Hamburger Seelöwe?“ fragte
Strobel, der bei mir eintrat und beim Abnehmen des
Hutes ein Miniaturſchneegeſtöber hervor brachte.

„Ein Hamburger Seelöwe?“ fragte ich verwundert.
„Doch nicht etwa ein Mitglied des Raths der Ober-
alten?“

„Beinahe,“ lachte der Zeichner. „Ein Hamburger
Seelöwe iſt eine Haſenpfote, auf welche oben ein men-
ſchenähnliches Geſicht geleimt iſt. Ein ſolches Indivi-
duum verſteht an einem Tiſchrande gar anmuthige Be-
wegungen zu machen. Sehen ſie hier!“

Dabei zog er den Gegenſtand unſres Geſprächs her-
vor, hing ihn an meinen Schreibtiſch und brachte ihn
durch eine Art Pendel in Bewegung.

„Iſt das nicht eine wundervolle Erfindung?“

„Prächtig,“ ſagte ich, — „in meiner Jugend brachte
man aber denſelben Effect durch den abgenagten Bruſt-
knochen eines Gänſebratens, in welchen man eine Gabel
ſteckte, hervor, aber die Cultur muß ja fortſchreiten.“

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[63/0073] dort liegt auf der weißen Decke des Pflaſters ein ver- lorner Tannenzweig. Es wird viel Goldſchaum verkauft, und bedeckte Platten von Eiſenblech, die vorbeigetragen werden, verbreiten einen wundervollen Duft. — — „Was iſt ein echter Hamburger Seelöwe?“ fragte Strobel, der bei mir eintrat und beim Abnehmen des Hutes ein Miniaturſchneegeſtöber hervor brachte. „Ein Hamburger Seelöwe?“ fragte ich verwundert. „Doch nicht etwa ein Mitglied des Raths der Ober- alten?“ „Beinahe,“ lachte der Zeichner. „Ein Hamburger Seelöwe iſt eine Haſenpfote, auf welche oben ein men- ſchenähnliches Geſicht geleimt iſt. Ein ſolches Indivi- duum verſteht an einem Tiſchrande gar anmuthige Be- wegungen zu machen. Sehen ſie hier!“ Dabei zog er den Gegenſtand unſres Geſprächs her- vor, hing ihn an meinen Schreibtiſch und brachte ihn durch eine Art Pendel in Bewegung. „Iſt das nicht eine wundervolle Erfindung?“ „Prächtig,“ ſagte ich, — „in meiner Jugend brachte man aber denſelben Effect durch den abgenagten Bruſt- knochen eines Gänſebratens, in welchen man eine Gabel ſteckte, hervor, aber die Cultur muß ja fortſchreiten.“ „Ja, die Kultur ſchreitet fort!“ ſeufzte der Zeichner. „Sogar die einfachen Tannen machen allmählich dieſen

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/73>, abgerufen am 25.04.2024.