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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Jung gewohnt, alt gethan.

Jch bin noch bis auf gegenwärtige Stunde
ungewiß, ob ich dieses Sprüchwort für
wahr halten, oder glauben soll, daß es, wo nicht
gar ungegründet, doch bey uns wenigstens ganz
aus der Mode gekommen sey.

Alle Weltweisen, in der unendlich langen
Reihe, vom großen Sokrates bis auf unsern
kleinen - - - *) tummeln sich mit dieser alten
Wahrheit, an der sie innerlich selbst zweifeln, weil
ein Philosoph gar selten die moralischen Wahr-
heiten glaubt, die er andern lehrt.

Und wo soll ich den Beweis von der Wahr-
heit dieses Sprüchwortes hernehmen, wenn mir
die Philosophen heucheln, wenn mir die Auffüh-
rung der halben Welt bezeuget, daß man es für
ungegründet hält, und wenn ich so viel Menschen
vor mir sehe, die in ihrem Alter etwas ganz an-
ders thun, als sie in ihrer Jugend gewohnt ge-
wesen sind?

Glaubte die Welt, daß die ersten Angewohn-
heiten der Jugend einen unvermeidlichen Einfluß
in den übrigen Theil des Lebens hätten; so wür-
den diejenigen, denen die Natur, oder die Obrig-

keit,
*) Eine jede philosophische Secte hat die Freyheit, diese
Lücke auszufüllen.


Jung gewohnt, alt gethan.

Jch bin noch bis auf gegenwaͤrtige Stunde
ungewiß, ob ich dieſes Spruͤchwort fuͤr
wahr halten, oder glauben ſoll, daß es, wo nicht
gar ungegruͤndet, doch bey uns wenigſtens ganz
aus der Mode gekommen ſey.

Alle Weltweiſen, in der unendlich langen
Reihe, vom großen Sokrates bis auf unſern
kleinen ‒ ‒ ‒ *) tummeln ſich mit dieſer alten
Wahrheit, an der ſie innerlich ſelbſt zweifeln, weil
ein Philoſoph gar ſelten die moraliſchen Wahr-
heiten glaubt, die er andern lehrt.

Und wo ſoll ich den Beweis von der Wahr-
heit dieſes Spruͤchwortes hernehmen, wenn mir
die Philoſophen heucheln, wenn mir die Auffuͤh-
rung der halben Welt bezeuget, daß man es fuͤr
ungegruͤndet haͤlt, und wenn ich ſo viel Menſchen
vor mir ſehe, die in ihrem Alter etwas ganz an-
ders thun, als ſie in ihrer Jugend gewohnt ge-
weſen ſind?

Glaubte die Welt, daß die erſten Angewohn-
heiten der Jugend einen unvermeidlichen Einfluß
in den uͤbrigen Theil des Lebens haͤtten; ſo wuͤr-
den diejenigen, denen die Natur, oder die Obrig-

keit,
*) Eine jede philoſophiſche Secte hat die Freyheit, dieſe
Luͤcke auszufuͤllen.
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[134/0156] Jung gewohnt, alt gethan. Jch bin noch bis auf gegenwaͤrtige Stunde ungewiß, ob ich dieſes Spruͤchwort fuͤr wahr halten, oder glauben ſoll, daß es, wo nicht gar ungegruͤndet, doch bey uns wenigſtens ganz aus der Mode gekommen ſey. Alle Weltweiſen, in der unendlich langen Reihe, vom großen Sokrates bis auf unſern kleinen ‒ ‒ ‒ *) tummeln ſich mit dieſer alten Wahrheit, an der ſie innerlich ſelbſt zweifeln, weil ein Philoſoph gar ſelten die moraliſchen Wahr- heiten glaubt, die er andern lehrt. Und wo ſoll ich den Beweis von der Wahr- heit dieſes Spruͤchwortes hernehmen, wenn mir die Philoſophen heucheln, wenn mir die Auffuͤh- rung der halben Welt bezeuget, daß man es fuͤr ungegruͤndet haͤlt, und wenn ich ſo viel Menſchen vor mir ſehe, die in ihrem Alter etwas ganz an- ders thun, als ſie in ihrer Jugend gewohnt ge- weſen ſind? Glaubte die Welt, daß die erſten Angewohn- heiten der Jugend einen unvermeidlichen Einfluß in den uͤbrigen Theil des Lebens haͤtten; ſo wuͤr- den diejenigen, denen die Natur, oder die Obrig- keit, *) Eine jede philoſophiſche Secte hat die Freyheit, dieſe Luͤcke auszufuͤllen.

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/156>, abgerufen am 29.03.2024.