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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Das Märchen vom ersten April.
9.

Selinde, (8) ein stilles, tugendhaftes, und
wie man versichern will, fast einfältiges Mädchen,
nimmt die Schmeicheleyen des jungen Seladons
für Ernst an. Er thut ihr Versicherungen und
Schwüre, die sie in dem Hause ihrer Mutter, die
eben so stille, tugendhaft, und eben so einfältig
ist, niemals gehört hat. Sie nimmt diese
Schwüre für Ernst auf, und fängt an, diesen
Flatterhaften zu lieben. Die Mutter läßt es ge-
schehen, daß er sie oft und zu allen Zeiten besucht:
Die zufriedne Tochter küßt der gefälligen Mutter
die Hände dafür. Seladon redet von nichts, als
von dem Glücke, das er sich wünscht, die Hand
eines so liebenswürdigen Kindes ewig zu besitzen.
Das einfältige Kind schweigt sittsam, und wünscht
es in ihrem Herzen selbst. Die Mutter lächelt,
halb andächtig, und halb, als erinnerte sie sich ih-
rer Jugend, und sagt: Wie Gott will, ihr Kin-
der! Der Leichtsinnige hat die Absicht gar nicht,
Selinden zu heirathen. Er liebt ihre Schönheit,
und will versuchen, wie weit er diesen Roman
ausführen könne. Aber die Tugend des Mäd-
chens, und der Mutter sind ihm beständig ein un-
überwindliches Hinderniß. Man warnt die gute
Mutter. Sie bittet ihn, seine Besuche zu unter-
lassen, welche der ganzen Stadt so verdächtig wür-
den: Aber er ist so niederträchtig, daß er sich in
öffentlichen Gesellschaften gewisser Vertraulichkei-

ten
(8) Arme E - -! du dauerst mich, und doch weis ich nicht,
wie deinem guten Namen wieder aufzuhelfen ist.
Das Maͤrchen vom erſten April.
9.

Selinde, (8) ein ſtilles, tugendhaftes, und
wie man verſichern will, faſt einfaͤltiges Maͤdchen,
nimmt die Schmeicheleyen des jungen Seladons
fuͤr Ernſt an. Er thut ihr Verſicherungen und
Schwuͤre, die ſie in dem Hauſe ihrer Mutter, die
eben ſo ſtille, tugendhaft, und eben ſo einfaͤltig
iſt, niemals gehoͤrt hat. Sie nimmt dieſe
Schwuͤre fuͤr Ernſt auf, und faͤngt an, dieſen
Flatterhaften zu lieben. Die Mutter laͤßt es ge-
ſchehen, daß er ſie oft und zu allen Zeiten beſucht:
Die zufriedne Tochter kuͤßt der gefaͤlligen Mutter
die Haͤnde dafuͤr. Seladon redet von nichts, als
von dem Gluͤcke, das er ſich wuͤnſcht, die Hand
eines ſo liebenswuͤrdigen Kindes ewig zu beſitzen.
Das einfaͤltige Kind ſchweigt ſittſam, und wuͤnſcht
es in ihrem Herzen ſelbſt. Die Mutter laͤchelt,
halb andaͤchtig, und halb, als erinnerte ſie ſich ih-
rer Jugend, und ſagt: Wie Gott will, ihr Kin-
der! Der Leichtſinnige hat die Abſicht gar nicht,
Selinden zu heirathen. Er liebt ihre Schoͤnheit,
und will verſuchen, wie weit er dieſen Roman
ausfuͤhren koͤnne. Aber die Tugend des Maͤd-
chens, und der Mutter ſind ihm beſtaͤndig ein un-
uͤberwindliches Hinderniß. Man warnt die gute
Mutter. Sie bittet ihn, ſeine Beſuche zu unter-
laſſen, welche der ganzen Stadt ſo verdaͤchtig wuͤr-
den: Aber er iſt ſo niedertraͤchtig, daß er ſich in
oͤffentlichen Geſellſchaften gewiſſer Vertraulichkei-

ten
(8) Arme E ‒ ‒! du dauerſt mich, und doch weis ich nicht,
wie deinem guten Namen wieder aufzuhelfen iſt.
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[508[506]/0530] Das Maͤrchen vom erſten April. 9. Selinde, (8) ein ſtilles, tugendhaftes, und wie man verſichern will, faſt einfaͤltiges Maͤdchen, nimmt die Schmeicheleyen des jungen Seladons fuͤr Ernſt an. Er thut ihr Verſicherungen und Schwuͤre, die ſie in dem Hauſe ihrer Mutter, die eben ſo ſtille, tugendhaft, und eben ſo einfaͤltig iſt, niemals gehoͤrt hat. Sie nimmt dieſe Schwuͤre fuͤr Ernſt auf, und faͤngt an, dieſen Flatterhaften zu lieben. Die Mutter laͤßt es ge- ſchehen, daß er ſie oft und zu allen Zeiten beſucht: Die zufriedne Tochter kuͤßt der gefaͤlligen Mutter die Haͤnde dafuͤr. Seladon redet von nichts, als von dem Gluͤcke, das er ſich wuͤnſcht, die Hand eines ſo liebenswuͤrdigen Kindes ewig zu beſitzen. Das einfaͤltige Kind ſchweigt ſittſam, und wuͤnſcht es in ihrem Herzen ſelbſt. Die Mutter laͤchelt, halb andaͤchtig, und halb, als erinnerte ſie ſich ih- rer Jugend, und ſagt: Wie Gott will, ihr Kin- der! Der Leichtſinnige hat die Abſicht gar nicht, Selinden zu heirathen. Er liebt ihre Schoͤnheit, und will verſuchen, wie weit er dieſen Roman ausfuͤhren koͤnne. Aber die Tugend des Maͤd- chens, und der Mutter ſind ihm beſtaͤndig ein un- uͤberwindliches Hinderniß. Man warnt die gute Mutter. Sie bittet ihn, ſeine Beſuche zu unter- laſſen, welche der ganzen Stadt ſo verdaͤchtig wuͤr- den: Aber er iſt ſo niedertraͤchtig, daß er ſich in oͤffentlichen Geſellſchaften gewiſſer Vertraulichkei- ten (8) Arme E ‒ ‒! du dauerſt mich, und doch weis ich nicht, wie deinem guten Namen wieder aufzuhelfen iſt.

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 508[506]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/530>, abgerufen am 29.03.2024.