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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

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Ueber die Unterscheidungszeichen

Ueber die Unterscheidungszeichen des
Kirchenstils in der Mahlerei.
Die neueren
Künstler, wel-
che haupt-
sächlich für
Kirchen ge-
arbeitet ha-
ben, haben
über die Sor-
ge für dieje-
nigen Theile,
welche eine
große Com-
position zu
einem wohl-
gefälligen
Ganzen ma-
chen, die Er-
fordernisse
der Schön-
heit und
Wahrheit im
Einzelnen
vergessen.

Das Charakteristische des Kirchenstils in der
Mahlerei beruhet hauptsächlich in dem Fehler,
daß die Nachfolger des Andrea Sacchi, und Pietro
da Cortona den angenehmen Eindruck des bloßen
Scheins, der eigentlichen mahlerischen Würkung, auf
Kosten der Wahrheit und Schönheit im Einzelnen
verfolgt haben.

Da die Flächen, welche die Künstler in den Kir-
chen zu bedecken hatten, von großem Umfange wa-
ren, so strebten sie vorzüglich nach Vollkommenheit in
den Theilen der Mahlerei, welche ein großes Ganze
dem ersten Anblick wohlgefällig machen. Welches

diese
gessen, daß es auch eine ausgesonderte Natur, eine
vernünftige Auswahl in den Gegenständen der
Treue giebt. Zu meiner Zeit that sich ein junger
Künstler, ein Venetianer, Canova genannt, (der
vielleicht mit der Zeit die Ehre der alten Kunst auf
die Neueren bringen kann,) durch zwei Werke her-
vor. Das erste hatte er in Venedig gearbeitet, ehe
er die Antike kannte. Es stellte den Dädalus vor,
der seinem Sohne die Flügel anbindet: Das Ver-
dienst daran war treue Nachbildung der Natur.
Die Französische Academie schrie: Wunder! Bald
darauf bildete derselbe Künstler einen Theseus, der
auf dem erschlagenen Minotaur ruhet. Die Haupt-
figur war im Stile der Antike gedacht, und die
Franzosen glaubten, das junge Genie sey verloren.
Ueber die Unterſcheidungszeichen

Ueber die Unterſcheidungszeichen des
Kirchenſtils in der Mahlerei.
Die neueren
Kuͤnſtler, wel-
che haupt-
ſaͤchlich fuͤr
Kirchen ge-
arbeitet ha-
ben, haben
uͤber die Sor-
ge fuͤr dieje-
nigen Theile,
welche eine
große Com-
poſition zu
einem wohl-
gefaͤlligen
Ganzen ma-
chen, die Er-
forderniſſe
der Schoͤn-
heit und
Wahrheit im
Einzelnen
vergeſſen.

Das Charakteriſtiſche des Kirchenſtils in der
Mahlerei beruhet hauptſaͤchlich in dem Fehler,
daß die Nachfolger des Andrea Sacchi, und Pietro
da Cortona den angenehmen Eindruck des bloßen
Scheins, der eigentlichen mahleriſchen Wuͤrkung, auf
Koſten der Wahrheit und Schoͤnheit im Einzelnen
verfolgt haben.

Da die Flaͤchen, welche die Kuͤnſtler in den Kir-
chen zu bedecken hatten, von großem Umfange wa-
ren, ſo ſtrebten ſie vorzuͤglich nach Vollkommenheit in
den Theilen der Mahlerei, welche ein großes Ganze
dem erſten Anblick wohlgefaͤllig machen. Welches

dieſe
geſſen, daß es auch eine ausgeſonderte Natur, eine
vernuͤnftige Auswahl in den Gegenſtaͤnden der
Treue giebt. Zu meiner Zeit that ſich ein junger
Kuͤnſtler, ein Venetianer, Canova genannt, (der
vielleicht mit der Zeit die Ehre der alten Kunſt auf
die Neueren bringen kann,) durch zwei Werke her-
vor. Das erſte hatte er in Venedig gearbeitet, ehe
er die Antike kannte. Es ſtellte den Daͤdalus vor,
der ſeinem Sohne die Fluͤgel anbindet: Das Ver-
dienſt daran war treue Nachbildung der Natur.
Die Franzoͤſiſche Academie ſchrie: Wunder! Bald
darauf bildete derſelbe Kuͤnſtler einen Theſeus, der
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figur war im Stile der Antike gedacht, und die
Franzoſen glaubten, das junge Genie ſey verloren.
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[204/0228] Ueber die Unterſcheidungszeichen Ueber die Unterſcheidungszeichen des Kirchenſtils in der Mahlerei. Das Charakteriſtiſche des Kirchenſtils in der Mahlerei beruhet hauptſaͤchlich in dem Fehler, daß die Nachfolger des Andrea Sacchi, und Pietro da Cortona den angenehmen Eindruck des bloßen Scheins, der eigentlichen mahleriſchen Wuͤrkung, auf Koſten der Wahrheit und Schoͤnheit im Einzelnen verfolgt haben. Da die Flaͤchen, welche die Kuͤnſtler in den Kir- chen zu bedecken hatten, von großem Umfange wa- ren, ſo ſtrebten ſie vorzuͤglich nach Vollkommenheit in den Theilen der Mahlerei, welche ein großes Ganze dem erſten Anblick wohlgefaͤllig machen. Welches dieſe 7) 7) geſſen, daß es auch eine ausgeſonderte Natur, eine vernuͤnftige Auswahl in den Gegenſtaͤnden der Treue giebt. Zu meiner Zeit that ſich ein junger Kuͤnſtler, ein Venetianer, Canova genannt, (der vielleicht mit der Zeit die Ehre der alten Kunſt auf die Neueren bringen kann,) durch zwei Werke her- vor. Das erſte hatte er in Venedig gearbeitet, ehe er die Antike kannte. Es ſtellte den Daͤdalus vor, der ſeinem Sohne die Fluͤgel anbindet: Das Ver- dienſt daran war treue Nachbildung der Natur. Die Franzoͤſiſche Academie ſchrie: Wunder! Bald darauf bildete derſelbe Kuͤnſtler einen Theſeus, der auf dem erſchlagenen Minotaur ruhet. Die Haupt- figur war im Stile der Antike gedacht, und die Franzoſen glaubten, das junge Genie ſey verloren.

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/228>, abgerufen am 20.04.2024.