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Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

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Geschlechts, der ihm die gröbsten Laster und die niedrigste Verworfenheit Schuld giebt, greift den Euripides wegen seiner Weiberfeindschaft an. Wir werden gleich sehen, mit welchem Rechte. Genug! Ein Komiker wie Aristophanes nimmt die Sitten einzelner hervorstechender Individuen für Sitten eines ganzen Standes und Geschlechts an, und übertreibt die Farben, um die Wirkung, die er beabsichtigt, zu erhöhen. Ich glaube nicht, daß man aus seinen Darstellungen etwas Zuverlässiges über die Denkungsart der gebildeteren Klasse in Athen in irgend einem Stücke folgern könne.

Die Werke der Tragiker scheinen mir eine wichtigere Quelle zu seyn, um daraus Kenntnisse über den Werth der Frauen, der engeren Verhältnisse zwischen ihnen und den Männern, und über die Liebe nach den Begriffen der Athenienser zu schöpfen. Aber man muß sie mit Behutsamkeit nutzen.

Der Tragiker schildert ausgezeichnete Menschen, Menschen, die sich über das Gemeine an Tugenden, Lastern, und Schicksalen erheben: er nimmt seine Helden, und die Lage, in die er sie versetzt, gemeiniglich aus der Vorzeit, und oft aus der Geschichte benachbarter Länder. Er sucht das Interesse des gebildeteren Haufens seiner Zuschauer zu erwecken. Alle diese Rücksichten entfernen ihn um etwas von den lokalen Sitten des größern Haufens, und selbst von denen der guten Gesellschaft. Man kann also schlechterdings nicht behaupten, daß alle atheniensische Weiber den dargestellten geglichen haben: man darf durchaus nicht annehmen, daß die Ausdrücke von Hochschätzung oder Verachtung gegen das zärtere

Geschlechts, der ihm die gröbsten Laster und die niedrigste Verworfenheit Schuld giebt, greift den Euripides wegen seiner Weiberfeindschaft an. Wir werden gleich sehen, mit welchem Rechte. Genug! Ein Komiker wie Aristophanes nimmt die Sitten einzelner hervorstechender Individuen für Sitten eines ganzen Standes und Geschlechts an, und übertreibt die Farben, um die Wirkung, die er beabsichtigt, zu erhöhen. Ich glaube nicht, daß man aus seinen Darstellungen etwas Zuverlässiges über die Denkungsart der gebildeteren Klasse in Athen in irgend einem Stücke folgern könne.

Die Werke der Tragiker scheinen mir eine wichtigere Quelle zu seyn, um daraus Kenntnisse über den Werth der Frauen, der engeren Verhältnisse zwischen ihnen und den Männern, und über die Liebe nach den Begriffen der Athenienser zu schöpfen. Aber man muß sie mit Behutsamkeit nutzen.

Der Tragiker schildert ausgezeichnete Menschen, Menschen, die sich über das Gemeine an Tugenden, Lastern, und Schicksalen erheben: er nimmt seine Helden, und die Lage, in die er sie versetzt, gemeiniglich aus der Vorzeit, und oft aus der Geschichte benachbarter Länder. Er sucht das Interesse des gebildeteren Haufens seiner Zuschauer zu erwecken. Alle diese Rücksichten entfernen ihn um etwas von den lokalen Sitten des größern Haufens, und selbst von denen der guten Gesellschaft. Man kann also schlechterdings nicht behaupten, daß alle atheniensische Weiber den dargestellten geglichen haben: man darf durchaus nicht annehmen, daß die Ausdrücke von Hochschätzung oder Verachtung gegen das zärtere

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[58/0058] Geschlechts, der ihm die gröbsten Laster und die niedrigste Verworfenheit Schuld giebt, greift den Euripides wegen seiner Weiberfeindschaft an. Wir werden gleich sehen, mit welchem Rechte. Genug! Ein Komiker wie Aristophanes nimmt die Sitten einzelner hervorstechender Individuen für Sitten eines ganzen Standes und Geschlechts an, und übertreibt die Farben, um die Wirkung, die er beabsichtigt, zu erhöhen. Ich glaube nicht, daß man aus seinen Darstellungen etwas Zuverlässiges über die Denkungsart der gebildeteren Klasse in Athen in irgend einem Stücke folgern könne. Die Werke der Tragiker scheinen mir eine wichtigere Quelle zu seyn, um daraus Kenntnisse über den Werth der Frauen, der engeren Verhältnisse zwischen ihnen und den Männern, und über die Liebe nach den Begriffen der Athenienser zu schöpfen. Aber man muß sie mit Behutsamkeit nutzen. Der Tragiker schildert ausgezeichnete Menschen, Menschen, die sich über das Gemeine an Tugenden, Lastern, und Schicksalen erheben: er nimmt seine Helden, und die Lage, in die er sie versetzt, gemeiniglich aus der Vorzeit, und oft aus der Geschichte benachbarter Länder. Er sucht das Interesse des gebildeteren Haufens seiner Zuschauer zu erwecken. Alle diese Rücksichten entfernen ihn um etwas von den lokalen Sitten des größern Haufens, und selbst von denen der guten Gesellschaft. Man kann also schlechterdings nicht behaupten, daß alle atheniensische Weiber den dargestellten geglichen haben: man darf durchaus nicht annehmen, daß die Ausdrücke von Hochschätzung oder Verachtung gegen das zärtere

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Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/58>, abgerufen am 23.04.2024.