Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite
Erstes Buch.
Innere Gährung.

Wären die Versuche, der Nation eine Verfassung zu
geben, gelungen, so würde eine lebhafte innere Bewegung
unvermeidlich gewesen seyn, ehe sich alles der neu entstan-
denen centralen Gewalt gefügt und untergeordnet hätte;
daß aber die Versuche unternommen worden und nicht ge-
lungen waren, daß man an dem Bestehenden gerüttelt, und
eine lebendige Einheit nicht zu Stande gebracht, mußte
eine allgemeine Gährung veranlassen.

Die gegenseitigen Rechte und Pflichten des Oberhaup-
tes und der Stände waren nun erst recht zweifelhaft ge-
worden. Die Stände hatten Theilnahme an Jurisdiction
und Regierung gefordert: der Kaiser hatte einiges nach-
gegeben, andres suchte er um so mehr festzuhalten: eine
Grenze war nicht gefunden worden. Es war ein unauf-
hörliches Fordern und Verweigern; abgenöthigtes Bewilli-
gen, unvollständiges Leisten; ohne wahre Anstrengung, ohne
wesentlichen Erfolg und deshalb auch ohne Genugthuung
auf irgend einer Seite. Früher hatte wenigstens die Union
der Churfürsten eine gewisse Selbständigkeit gehabt, die
Einheit des Reiches repräsentirt: seit 1504 war auch diese
gesprengt; zuletzt war Mainz und Sachsen noch in einen
bittern Streit gerathen, der das Collegium vollends aus
einander warf. Die einzigen Institute welche zu Stande
gekommen, waren das Kammergericht und die Matrikel.
Aber wie sorglos war diese Matrikel verfaßt. Da waren
aus den alten Registern Fürsten aufgeführt die sich gar
nicht mehr fanden; auf die nach und nach zu Stande ge-

Erſtes Buch.
Innere Gährung.

Wären die Verſuche, der Nation eine Verfaſſung zu
geben, gelungen, ſo würde eine lebhafte innere Bewegung
unvermeidlich geweſen ſeyn, ehe ſich alles der neu entſtan-
denen centralen Gewalt gefügt und untergeordnet hätte;
daß aber die Verſuche unternommen worden und nicht ge-
lungen waren, daß man an dem Beſtehenden gerüttelt, und
eine lebendige Einheit nicht zu Stande gebracht, mußte
eine allgemeine Gährung veranlaſſen.

Die gegenſeitigen Rechte und Pflichten des Oberhaup-
tes und der Stände waren nun erſt recht zweifelhaft ge-
worden. Die Stände hatten Theilnahme an Jurisdiction
und Regierung gefordert: der Kaiſer hatte einiges nach-
gegeben, andres ſuchte er um ſo mehr feſtzuhalten: eine
Grenze war nicht gefunden worden. Es war ein unauf-
hörliches Fordern und Verweigern; abgenöthigtes Bewilli-
gen, unvollſtändiges Leiſten; ohne wahre Anſtrengung, ohne
weſentlichen Erfolg und deshalb auch ohne Genugthuung
auf irgend einer Seite. Früher hatte wenigſtens die Union
der Churfürſten eine gewiſſe Selbſtändigkeit gehabt, die
Einheit des Reiches repräſentirt: ſeit 1504 war auch dieſe
geſprengt; zuletzt war Mainz und Sachſen noch in einen
bittern Streit gerathen, der das Collegium vollends aus
einander warf. Die einzigen Inſtitute welche zu Stande
gekommen, waren das Kammergericht und die Matrikel.
Aber wie ſorglos war dieſe Matrikel verfaßt. Da waren
aus den alten Regiſtern Fürſten aufgeführt die ſich gar
nicht mehr fanden; auf die nach und nach zu Stande ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0218" n="200"/>
          <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;tes Buch</hi>.</fw>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>Innere Gährung.</head><lb/>
          <p>Wären die Ver&#x017F;uche, der Nation eine Verfa&#x017F;&#x017F;ung zu<lb/>
geben, gelungen, &#x017F;o würde eine lebhafte innere Bewegung<lb/>
unvermeidlich gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, ehe &#x017F;ich alles der neu ent&#x017F;tan-<lb/>
denen centralen Gewalt gefügt und untergeordnet hätte;<lb/>
daß aber die Ver&#x017F;uche unternommen worden und nicht ge-<lb/>
lungen waren, daß man an dem Be&#x017F;tehenden gerüttelt, und<lb/>
eine lebendige Einheit nicht zu Stande gebracht, mußte<lb/>
eine allgemeine Gährung veranla&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Die gegen&#x017F;eitigen Rechte und Pflichten des Oberhaup-<lb/>
tes und der Stände waren nun er&#x017F;t recht zweifelhaft ge-<lb/>
worden. Die Stände hatten Theilnahme an Jurisdiction<lb/>
und Regierung gefordert: der Kai&#x017F;er hatte einiges nach-<lb/>
gegeben, andres &#x017F;uchte er um &#x017F;o mehr fe&#x017F;tzuhalten: eine<lb/>
Grenze war nicht gefunden worden. Es war ein unauf-<lb/>
hörliches Fordern und Verweigern; abgenöthigtes Bewilli-<lb/>
gen, unvoll&#x017F;tändiges Lei&#x017F;ten; ohne wahre An&#x017F;trengung, ohne<lb/>
we&#x017F;entlichen Erfolg und deshalb auch ohne Genugthuung<lb/>
auf irgend einer Seite. Früher hatte wenig&#x017F;tens die Union<lb/>
der Churfür&#x017F;ten eine gewi&#x017F;&#x017F;e Selb&#x017F;tändigkeit gehabt, die<lb/>
Einheit des Reiches reprä&#x017F;entirt: &#x017F;eit 1504 war auch die&#x017F;e<lb/>
ge&#x017F;prengt; zuletzt war Mainz und Sach&#x017F;en noch in einen<lb/>
bittern Streit gerathen, der das Collegium vollends aus<lb/>
einander warf. Die einzigen In&#x017F;titute welche zu Stande<lb/>
gekommen, waren das Kammergericht und die Matrikel.<lb/>
Aber wie &#x017F;orglos war die&#x017F;e Matrikel verfaßt. Da waren<lb/>
aus den alten Regi&#x017F;tern Für&#x017F;ten aufgeführt die &#x017F;ich gar<lb/>
nicht mehr fanden; auf die nach und nach zu Stande ge-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0218] Erſtes Buch. Innere Gährung. Wären die Verſuche, der Nation eine Verfaſſung zu geben, gelungen, ſo würde eine lebhafte innere Bewegung unvermeidlich geweſen ſeyn, ehe ſich alles der neu entſtan- denen centralen Gewalt gefügt und untergeordnet hätte; daß aber die Verſuche unternommen worden und nicht ge- lungen waren, daß man an dem Beſtehenden gerüttelt, und eine lebendige Einheit nicht zu Stande gebracht, mußte eine allgemeine Gährung veranlaſſen. Die gegenſeitigen Rechte und Pflichten des Oberhaup- tes und der Stände waren nun erſt recht zweifelhaft ge- worden. Die Stände hatten Theilnahme an Jurisdiction und Regierung gefordert: der Kaiſer hatte einiges nach- gegeben, andres ſuchte er um ſo mehr feſtzuhalten: eine Grenze war nicht gefunden worden. Es war ein unauf- hörliches Fordern und Verweigern; abgenöthigtes Bewilli- gen, unvollſtändiges Leiſten; ohne wahre Anſtrengung, ohne weſentlichen Erfolg und deshalb auch ohne Genugthuung auf irgend einer Seite. Früher hatte wenigſtens die Union der Churfürſten eine gewiſſe Selbſtändigkeit gehabt, die Einheit des Reiches repräſentirt: ſeit 1504 war auch dieſe geſprengt; zuletzt war Mainz und Sachſen noch in einen bittern Streit gerathen, der das Collegium vollends aus einander warf. Die einzigen Inſtitute welche zu Stande gekommen, waren das Kammergericht und die Matrikel. Aber wie ſorglos war dieſe Matrikel verfaßt. Da waren aus den alten Regiſtern Fürſten aufgeführt die ſich gar nicht mehr fanden; auf die nach und nach zu Stande ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/218
Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/218>, abgerufen am 25.04.2024.