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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

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theilweise seiner bewusst seyn; er kann handeln,
sich beobachten, über sich reflektiren, ja es sogar
überlegen, ob er dies alles im Traume oder als
Wachender thue. Doch wacht er nicht und er-
kennt es erst in dem Moment des Erwachens,
wo die Normal-Sympathie der Getriebe des Mi-
krokosmus hergestellt wird, dass er nicht ge-
wacht habe. Wir können die sublimsten Werke
der höheren Seelenkräfte mit Bewusstseyn, aber
auch ohne dasselbe, als blosse Automaten, ver-
richten. Wir können als Somnambülen die ge-
fährlichsten Oerter ersteigen, durch reissende
Ströme schwimmen, die trefflichsten Dichtungen
entwerfen und in fremden Sprachen reden. Der
Canarienvogel, den wir pfeifen gelehrt haben,
weiss nichts von dem Verhältniss der Oscillationen,
von dem Rythmus des Tacts und hat keine Er-
götzung an der Modulation der Töne. Wir ha-
ben Gruppen und Züge des künstlichsten und ver-
wickeltesten Muskelspiels in eine fremde Maschi-
ne hineingetragen, die sie mechanisch wieder-
hallt, wie die Aeols Harfe ihre Gesänge, wenn
der Wind in ihre Saiten bläst. Der Virtuose
spielt schön, weil er eine Seele hat. Aber eine
Flötenuhr spielt ohne dieselbe eben so schön. Sie
hatte freilich ihren Meister, aber auch ihr Mei-
ster hatte den seinigen. Der letzte Ring in der
Kette der Wesen hängt an dem Bette des Jupi-
ters. Auch Maschinen müssen die zufälligen Ver-
hältnisse äusserer Einflüsse wiederhallen, wenn sie

G

theilweiſe ſeiner bewuſst ſeyn; er kann handeln,
ſich beobachten, über ſich reflektiren, ja es ſogar
überlegen, ob er dies alles im Traume oder als
Wachender thue. Doch wacht er nicht und er-
kennt es erſt in dem Moment des Erwachens,
wo die Normal-Sympathie der Getriebe des Mi-
krokosmus hergeſtellt wird, daſs er nicht ge-
wacht habe. Wir können die ſublimſten Werke
der höheren Seelenkräfte mit Bewuſstſeyn, aber
auch ohne daſſelbe, als bloſse Automaten, ver-
richten. Wir können als Somnambülen die ge-
fährlichſten Oerter erſteigen, durch reiſsende
Ströme ſchwimmen, die trefflichſten Dichtungen
entwerfen und in fremden Sprachen reden. Der
Canarienvogel, den wir pfeifen gelehrt haben,
weiſs nichts von dem Verhältniſs der Oſcillationen,
von dem Rythmus des Tacts und hat keine Er-
götzung an der Modulation der Töne. Wir ha-
ben Gruppen und Züge des künſtlichſten und ver-
wickelteſten Muskelſpiels in eine fremde Maſchi-
ne hineingetragen, die ſie mechaniſch wieder-
hallt, wie die Aeols Harfe ihre Geſänge, wenn
der Wind in ihre Saiten bläſt. Der Virtuoſe
ſpielt ſchön, weil er eine Seele hat. Aber eine
Flötenuhr ſpielt ohne dieſelbe eben ſo ſchön. Sie
hatte freilich ihren Meiſter, aber auch ihr Mei-
ſter hatte den ſeinigen. Der letzte Ring in der
Kette der Weſen hängt an dem Bette des Jupi-
ters. Auch Maſchinen müſſen die zufälligen Ver-
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[97/0102] theilweiſe ſeiner bewuſst ſeyn; er kann handeln, ſich beobachten, über ſich reflektiren, ja es ſogar überlegen, ob er dies alles im Traume oder als Wachender thue. Doch wacht er nicht und er- kennt es erſt in dem Moment des Erwachens, wo die Normal-Sympathie der Getriebe des Mi- krokosmus hergeſtellt wird, daſs er nicht ge- wacht habe. Wir können die ſublimſten Werke der höheren Seelenkräfte mit Bewuſstſeyn, aber auch ohne daſſelbe, als bloſse Automaten, ver- richten. Wir können als Somnambülen die ge- fährlichſten Oerter erſteigen, durch reiſsende Ströme ſchwimmen, die trefflichſten Dichtungen entwerfen und in fremden Sprachen reden. Der Canarienvogel, den wir pfeifen gelehrt haben, weiſs nichts von dem Verhältniſs der Oſcillationen, von dem Rythmus des Tacts und hat keine Er- götzung an der Modulation der Töne. Wir ha- ben Gruppen und Züge des künſtlichſten und ver- wickelteſten Muskelſpiels in eine fremde Maſchi- ne hineingetragen, die ſie mechaniſch wieder- hallt, wie die Aeols Harfe ihre Geſänge, wenn der Wind in ihre Saiten bläſt. Der Virtuoſe ſpielt ſchön, weil er eine Seele hat. Aber eine Flötenuhr ſpielt ohne dieſelbe eben ſo ſchön. Sie hatte freilich ihren Meiſter, aber auch ihr Mei- ſter hatte den ſeinigen. Der letzte Ring in der Kette der Weſen hängt an dem Bette des Jupi- ters. Auch Maſchinen müſſen die zufälligen Ver- hältniſſe äuſserer Einflüſſe wiederhallen, wenn ſie G

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Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/102>, abgerufen am 24.04.2024.