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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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2. Die japanische Sprache und Literatur etc.

Die metrische Poesie hat in den Ländern des chinesischen
Culturkreises keinen hohen Flug genommen. G. Bousquet sagt mit
Recht von dieser Armut an poetischen Leistungen, dass dieselbe ihre
Erklärung in den Schwierigkeiten der unbiegsamen Sprache finde.
"Der Gedanke erblasst und schwindet, bevor er seine Gestalt gefunden
hat, und es bleibt nichts übrig, als das enge Skelet". Daher beschränkt
sich die schöpferische Kraft gerade des gebildeten Theiles der japa-
nischen Gesellschaft auf Silbenabmessen, Epigramme, Wortspiele und
andere geringfügige Erzeugnisse des Geistes.

Viel interessanter ist die Volkspoesie, wie sie sich in Dramen
und Comödien für das Theater, in Romanen für das weibliche Ge-
schlecht, in einem grossen Schatz von Fabeln, Sagen und Sprich-
wörtern äussert. Die hierher gehörende Literatur ist fast nur im hira-
kana geschrieben, der einzigen Schrift, mit welcher der gemeine Mann
und auch die Frau vertraut wird. In den Dramen spielen das Harakiri
und die Vendetta eine Hauptrolle. Sehr anziehend sind die Comödien.
Bei der grossen Empfänglichkeit des Volkes für alles Komische und
Lächerliche und dem ausgezeichneten Talent, es wiederzugeben, ist
hier die Hauptstärke der japanischen Schauspieler. Ihre Darstellung
komischer Scenen aus dem Familienleben steht den Leistungen unserer
berühmtesten Mimen nicht nach. Die vielen Romane, welche in
Japan noch mehr als bei uns, besonders vom weiblichen Geschlecht
gelesen werden, behandeln die nämlichen Gegenstände, wie die Co-
mödien, besonders Liebesgeschichten.

Von dem, was die eigentliche Volkspoesie leistet, hat uns zuerst
Mitford in seinen "Tales of Old Japan" eine grössere Zahl von
Proben gegeben *). Das Volk ist reich an treffenden Sprichwörtern,
an Märchen und Sagen, welche durch ihre naive Fassung und den
poetischen Reiz derselben uns in hohem Grade ansprechen. Für den
mit der japanischen Sprache vertrauten Sammler bietet sich hier noch
ein ergiebiges Feld. Er braucht nur das Land zu durchwandern und
mit Aufmerksamkeit den Erzählungen zu folgen, welche das Volk an
alte Denksteine, Glocken, Tempel und Geräthe an vielen Orten knüpft.
Auf dem Tokaido allein könnte er das Material zu einem dicken
Buche finden. Wie zahlreich sind schon die Märchen, welche in
Beziehung zu Oto-Hime-Sama, der jugendlichen und bezaubernd
schönen Königin von Riugu-jo, dem schönen Schlosse auf dem Meeres-

*) Eine reiche Sammlung von Sprichwörtern bieten A. von Knobloch und
Dr. Lange in verschiedenen Heften der Deutschen Gesellschaft für die Natur-
und Völkerkunde Ostasiens.
2. Die japanische Sprache und Literatur etc.

Die metrische Poesie hat in den Ländern des chinesischen
Culturkreises keinen hohen Flug genommen. G. Bousquet sagt mit
Recht von dieser Armut an poetischen Leistungen, dass dieselbe ihre
Erklärung in den Schwierigkeiten der unbiegsamen Sprache finde.
»Der Gedanke erblasst und schwindet, bevor er seine Gestalt gefunden
hat, und es bleibt nichts übrig, als das enge Skelet«. Daher beschränkt
sich die schöpferische Kraft gerade des gebildeten Theiles der japa-
nischen Gesellschaft auf Silbenabmessen, Epigramme, Wortspiele und
andere geringfügige Erzeugnisse des Geistes.

Viel interessanter ist die Volkspoesie, wie sie sich in Dramen
und Comödien für das Theater, in Romanen für das weibliche Ge-
schlecht, in einem grossen Schatz von Fabeln, Sagen und Sprich-
wörtern äussert. Die hierher gehörende Literatur ist fast nur im hira-
kana geschrieben, der einzigen Schrift, mit welcher der gemeine Mann
und auch die Frau vertraut wird. In den Dramen spielen das Harakiri
und die Vendetta eine Hauptrolle. Sehr anziehend sind die Comödien.
Bei der grossen Empfänglichkeit des Volkes für alles Komische und
Lächerliche und dem ausgezeichneten Talent, es wiederzugeben, ist
hier die Hauptstärke der japanischen Schauspieler. Ihre Darstellung
komischer Scenen aus dem Familienleben steht den Leistungen unserer
berühmtesten Mimen nicht nach. Die vielen Romane, welche in
Japan noch mehr als bei uns, besonders vom weiblichen Geschlecht
gelesen werden, behandeln die nämlichen Gegenstände, wie die Co-
mödien, besonders Liebesgeschichten.

Von dem, was die eigentliche Volkspoesie leistet, hat uns zuerst
Mitford in seinen »Tales of Old Japan« eine grössere Zahl von
Proben gegeben *). Das Volk ist reich an treffenden Sprichwörtern,
an Märchen und Sagen, welche durch ihre naive Fassung und den
poetischen Reiz derselben uns in hohem Grade ansprechen. Für den
mit der japanischen Sprache vertrauten Sammler bietet sich hier noch
ein ergiebiges Feld. Er braucht nur das Land zu durchwandern und
mit Aufmerksamkeit den Erzählungen zu folgen, welche das Volk an
alte Denksteine, Glocken, Tempel und Geräthe an vielen Orten knüpft.
Auf dem Tôkaidô allein könnte er das Material zu einem dicken
Buche finden. Wie zahlreich sind schon die Märchen, welche in
Beziehung zu Oto-Hime-Sama, der jugendlichen und bezaubernd
schönen Königin von Riugu-jô, dem schönen Schlosse auf dem Meeres-

*) Eine reiche Sammlung von Sprichwörtern bieten A. von Knobloch und
Dr. Lange in verschiedenen Heften der Deutschen Gesellschaft für die Natur-
und Völkerkunde Ostasiens.
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[471/0505] 2. Die japanische Sprache und Literatur etc. Die metrische Poesie hat in den Ländern des chinesischen Culturkreises keinen hohen Flug genommen. G. Bousquet sagt mit Recht von dieser Armut an poetischen Leistungen, dass dieselbe ihre Erklärung in den Schwierigkeiten der unbiegsamen Sprache finde. »Der Gedanke erblasst und schwindet, bevor er seine Gestalt gefunden hat, und es bleibt nichts übrig, als das enge Skelet«. Daher beschränkt sich die schöpferische Kraft gerade des gebildeten Theiles der japa- nischen Gesellschaft auf Silbenabmessen, Epigramme, Wortspiele und andere geringfügige Erzeugnisse des Geistes. Viel interessanter ist die Volkspoesie, wie sie sich in Dramen und Comödien für das Theater, in Romanen für das weibliche Ge- schlecht, in einem grossen Schatz von Fabeln, Sagen und Sprich- wörtern äussert. Die hierher gehörende Literatur ist fast nur im hira- kana geschrieben, der einzigen Schrift, mit welcher der gemeine Mann und auch die Frau vertraut wird. In den Dramen spielen das Harakiri und die Vendetta eine Hauptrolle. Sehr anziehend sind die Comödien. Bei der grossen Empfänglichkeit des Volkes für alles Komische und Lächerliche und dem ausgezeichneten Talent, es wiederzugeben, ist hier die Hauptstärke der japanischen Schauspieler. Ihre Darstellung komischer Scenen aus dem Familienleben steht den Leistungen unserer berühmtesten Mimen nicht nach. Die vielen Romane, welche in Japan noch mehr als bei uns, besonders vom weiblichen Geschlecht gelesen werden, behandeln die nämlichen Gegenstände, wie die Co- mödien, besonders Liebesgeschichten. Von dem, was die eigentliche Volkspoesie leistet, hat uns zuerst Mitford in seinen »Tales of Old Japan« eine grössere Zahl von Proben gegeben *). Das Volk ist reich an treffenden Sprichwörtern, an Märchen und Sagen, welche durch ihre naive Fassung und den poetischen Reiz derselben uns in hohem Grade ansprechen. Für den mit der japanischen Sprache vertrauten Sammler bietet sich hier noch ein ergiebiges Feld. Er braucht nur das Land zu durchwandern und mit Aufmerksamkeit den Erzählungen zu folgen, welche das Volk an alte Denksteine, Glocken, Tempel und Geräthe an vielen Orten knüpft. Auf dem Tôkaidô allein könnte er das Material zu einem dicken Buche finden. Wie zahlreich sind schon die Märchen, welche in Beziehung zu Oto-Hime-Sama, der jugendlichen und bezaubernd schönen Königin von Riugu-jô, dem schönen Schlosse auf dem Meeres- *) Eine reiche Sammlung von Sprichwörtern bieten A. von Knobloch und Dr. Lange in verschiedenen Heften der Deutschen Gesellschaft für die Natur- und Völkerkunde Ostasiens.

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/505>, abgerufen am 28.03.2024.