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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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II. Ethnographie.
Rechte, wie der pater familias im alten Rom, die unbeschränkte
Macht über Person und Eigenthum seiner Kinder. Den Missbrauch
derselben verhinderten in der Regel die natürliche Liebe und die
sehr einflussreiche Sitte. Mit diesem ausgedehnten Rechte des Fami-
lien-Oberhauptes war freilich auf der anderen Seite auch eine grosse
Verantwortlichkeit für alle Handlungen seiner Untergebenen verbun-
den. Sie wurde gemildert durch das weitere Recht, Glieder der
Familie auszustossen und fremde Personen in dieselbe hereinzuziehen.
Hierdurch verlor die japanische Familie viel von ihrem natürlichen
Charakter und erscheint mehr als Corporation.

Die Adoption (moraikko oder yoshi-ni naru) oder Annahme an
Kindes Statt ist eine alte, in Ostasien weit verbreitete und viel ge-
übte Sitte. Während der Römer Adoptivsöhne nahm, um seine Fa-
milie zu vergrössern, adoptierte der Japaner, um dieselbe zu erhalten.
Doch wurde hier die Sitte erst mit der Entwickelung des Feudal-
wesens und Shogunats allgemeiner und tief eingreifend in das ganze
Volksleben. Die Adoption hatte zwei Zwecke, einen materiellen und
einen religiösen. Der materielle, den wir auch den feudalen nennen
können und der zweifelsohne in den meisten Fällen den Ausschlag
gab, bestand darin, der Familie die erblichen Rechte zu sichern,
welche an Militärdienste oder wenigstens die Möglichkeit, solche leisten
zu können, gebunden waren. Desshalb führte schon Yoritomo das
Gesetz der männlichen Erbfolge für die Samuraiklasse ein. In den
älteren Zeiten gab es keine Beschränkungen der Erbfolgeschaft auf
männliche Nachkommen, wie denn auch die Geschichte Japans uns
neun regierende Kaiserinnen aufweist.

Der Adoptivsohn nahm in vielen Fällen den Namen seines
Adoptivvaters an und wurde meist zugleich auch dessen Schwieger-
sohn, wenn eine Tochter vorhanden war. So lange er minderjährig
(unter 15 Jahren) war, sorgten beiderlei Eltern für seine Erziehung.
In der Regel wurde er aus dem Kreise der Verwandten genommen
und diente das Verfahren als Versorgung jüngerer Söhne, doch gab
es darüber keine Vorschrift.

Der religiöse Zweck der Erhaltung der Familie durch Adoption
bestand darin, die Fortdauer der den Vorfahren bestimmten Opfer zu
sichern. Auf diese heilige Pflicht nahm man bei vornehmeren Fami-
lien noch Rücksicht, wenn sie zur Strafe ihres Besitzthums beraubt
wurden, wie wir in der Geschichte der Familie Hoshina (pag. 417)
gesehen haben. In China, wie in Japan gab und gibt es desshalb
wegen des Ahnencultus kaum ein grösseres Unglück für den Familien-
vater, als keinen Sohn zu haben, da es dann an Jemand fehlte, den

II. Ethnographie.
Rechte, wie der pater familias im alten Rom, die unbeschränkte
Macht über Person und Eigenthum seiner Kinder. Den Missbrauch
derselben verhinderten in der Regel die natürliche Liebe und die
sehr einflussreiche Sitte. Mit diesem ausgedehnten Rechte des Fami-
lien-Oberhauptes war freilich auf der anderen Seite auch eine grosse
Verantwortlichkeit für alle Handlungen seiner Untergebenen verbun-
den. Sie wurde gemildert durch das weitere Recht, Glieder der
Familie auszustossen und fremde Personen in dieselbe hereinzuziehen.
Hierdurch verlor die japanische Familie viel von ihrem natürlichen
Charakter und erscheint mehr als Corporation.

Die Adoption (moraikko oder yoshi-ni naru) oder Annahme an
Kindes Statt ist eine alte, in Ostasien weit verbreitete und viel ge-
übte Sitte. Während der Römer Adoptivsöhne nahm, um seine Fa-
milie zu vergrössern, adoptierte der Japaner, um dieselbe zu erhalten.
Doch wurde hier die Sitte erst mit der Entwickelung des Feudal-
wesens und Shôgunats allgemeiner und tief eingreifend in das ganze
Volksleben. Die Adoption hatte zwei Zwecke, einen materiellen und
einen religiösen. Der materielle, den wir auch den feudalen nennen
können und der zweifelsohne in den meisten Fällen den Ausschlag
gab, bestand darin, der Familie die erblichen Rechte zu sichern,
welche an Militärdienste oder wenigstens die Möglichkeit, solche leisten
zu können, gebunden waren. Desshalb führte schon Yoritomo das
Gesetz der männlichen Erbfolge für die Samuraiklasse ein. In den
älteren Zeiten gab es keine Beschränkungen der Erbfolgeschaft auf
männliche Nachkommen, wie denn auch die Geschichte Japans uns
neun regierende Kaiserinnen aufweist.

Der Adoptivsohn nahm in vielen Fällen den Namen seines
Adoptivvaters an und wurde meist zugleich auch dessen Schwieger-
sohn, wenn eine Tochter vorhanden war. So lange er minderjährig
(unter 15 Jahren) war, sorgten beiderlei Eltern für seine Erziehung.
In der Regel wurde er aus dem Kreise der Verwandten genommen
und diente das Verfahren als Versorgung jüngerer Söhne, doch gab
es darüber keine Vorschrift.

Der religiöse Zweck der Erhaltung der Familie durch Adoption
bestand darin, die Fortdauer der den Vorfahren bestimmten Opfer zu
sichern. Auf diese heilige Pflicht nahm man bei vornehmeren Fami-
lien noch Rücksicht, wenn sie zur Strafe ihres Besitzthums beraubt
wurden, wie wir in der Geschichte der Familie Hoshina (pag. 417)
gesehen haben. In China, wie in Japan gab und gibt es desshalb
wegen des Ahnencultus kaum ein grösseres Unglück für den Familien-
vater, als keinen Sohn zu haben, da es dann an Jemand fehlte, den

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[490/0524] II. Ethnographie. Rechte, wie der pater familias im alten Rom, die unbeschränkte Macht über Person und Eigenthum seiner Kinder. Den Missbrauch derselben verhinderten in der Regel die natürliche Liebe und die sehr einflussreiche Sitte. Mit diesem ausgedehnten Rechte des Fami- lien-Oberhauptes war freilich auf der anderen Seite auch eine grosse Verantwortlichkeit für alle Handlungen seiner Untergebenen verbun- den. Sie wurde gemildert durch das weitere Recht, Glieder der Familie auszustossen und fremde Personen in dieselbe hereinzuziehen. Hierdurch verlor die japanische Familie viel von ihrem natürlichen Charakter und erscheint mehr als Corporation. Die Adoption (moraikko oder yoshi-ni naru) oder Annahme an Kindes Statt ist eine alte, in Ostasien weit verbreitete und viel ge- übte Sitte. Während der Römer Adoptivsöhne nahm, um seine Fa- milie zu vergrössern, adoptierte der Japaner, um dieselbe zu erhalten. Doch wurde hier die Sitte erst mit der Entwickelung des Feudal- wesens und Shôgunats allgemeiner und tief eingreifend in das ganze Volksleben. Die Adoption hatte zwei Zwecke, einen materiellen und einen religiösen. Der materielle, den wir auch den feudalen nennen können und der zweifelsohne in den meisten Fällen den Ausschlag gab, bestand darin, der Familie die erblichen Rechte zu sichern, welche an Militärdienste oder wenigstens die Möglichkeit, solche leisten zu können, gebunden waren. Desshalb führte schon Yoritomo das Gesetz der männlichen Erbfolge für die Samuraiklasse ein. In den älteren Zeiten gab es keine Beschränkungen der Erbfolgeschaft auf männliche Nachkommen, wie denn auch die Geschichte Japans uns neun regierende Kaiserinnen aufweist. Der Adoptivsohn nahm in vielen Fällen den Namen seines Adoptivvaters an und wurde meist zugleich auch dessen Schwieger- sohn, wenn eine Tochter vorhanden war. So lange er minderjährig (unter 15 Jahren) war, sorgten beiderlei Eltern für seine Erziehung. In der Regel wurde er aus dem Kreise der Verwandten genommen und diente das Verfahren als Versorgung jüngerer Söhne, doch gab es darüber keine Vorschrift. Der religiöse Zweck der Erhaltung der Familie durch Adoption bestand darin, die Fortdauer der den Vorfahren bestimmten Opfer zu sichern. Auf diese heilige Pflicht nahm man bei vornehmeren Fami- lien noch Rücksicht, wenn sie zur Strafe ihres Besitzthums beraubt wurden, wie wir in der Geschichte der Familie Hoshina (pag. 417) gesehen haben. In China, wie in Japan gab und gibt es desshalb wegen des Ahnencultus kaum ein grösseres Unglück für den Familien- vater, als keinen Sohn zu haben, da es dann an Jemand fehlte, den

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/524>, abgerufen am 18.04.2024.