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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886.

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in Europa daran dachte, seinen alten asiatischen Genossen, die Baum-
wolle, zu einer so einflussreichen Stellung zu erheben; anderseits
können wir jedoch auch daraus schliessen, dass die Beschaffung der
Seide aus Ostasien mit grossen Kosten verknüpft war und ihre Er-
zeugung in Europa während einer langen Periode nur langsame Fort-
schritte machte. Sie hatte eben mit Schwierigkeiten eigener Art zu
kämpfen. Die andern Webstoffe, wie Wolle, Baumwolle, Flachs,
Hanf etc. sind Produkte grösserer Thiere, oder von Pflanzen, deren
Natur leicht zu studieren, deren Pflege nicht sehr mühsam, und bei
denen man schon nach wenigen Monaten einer Ernte gewiss ist. Die
Seide dagegen verdanken wir einem kleinen Insect, dessen Leben an
eine bestimmte Pflanzengattung gebunden ist. Zwei Organismen sind
hier in Einklang zu bringen, von denen der eine, die Nährpflanze,
mindestens eine mehrjährige Entwickelung durchmachen muss, bevor
der andere, die Seidenraupe, seine Lebensthätigkeit beginnen kann,
und diese ist eine sehr abweichende von der unserer andern Haus-
thiere. Die Seidenraupe ist sehr wählerisch in ihrer Nahrung und
hat doch in der Gefangenschaft nicht die Mittel, diese Wahl selbst zu
treffen; sie besitzt keine Stimme, um Hunger oder Frost oder sonstiges
Missbehagen auszudrücken, und doch erliegt sie schädlichen Einflüssen
sehr rasch; denn ihr Leben ist kurz und darum zart. Das Erkennen
dessen, was ihr förderlich ist, das Vermeiden aller schädlichen Ein-
flüsse, erfordert genaue Beobachtungen, viel Umsicht, Sorgfalt, Fleiss
und Erfahrung. Ein einziges Versehen, eine Vernachlässigung der
Aufgabe von nur wenigen Stunden bei ihrer Pflege raubt dem Seiden-
züchter unter Umständen den Lohn für alle vorausgegangene Mühe
und Arbeit.

Unter solchen Verhältnissen, -- und da nicht blos die Seiden-
raupe (Bombyx mori), sondern auch ihre Nährpflanze, der weisse
Maulbeerbaum (Morus alba L.) aus Ostasien eingeführt werden musste
--, findet man es begreiflich, wenn die Seidenzucht in Europa nur
langsam von Ost nach West und nordwärts vom Mittelmeer vorschritt,
umsomehr, da nebenbei jede Neuerung gegen Vorurtheile zu kämpfen
hat, besonders beim conservativen Landmann. So konnte z. B. auch
der sonst so einsichtsvolle Minister Sully nicht begreifen, dass ein so
unscheinbares Insect, wie die Seidenraupe, Frankreich wirklich Nutzen
bringen könne, und führte desshalb die Befehle Heinrich's IV., für An-
lage von Seidenraupenzuchten zu sorgen, nicht ohne Widerstreben aus.

Gleich dem Theebau ist auch die Seidenzucht von China aus-
gegangen und hat sich zunächst über Japan verbreitet, doch kommt
ihr unzweifelhaft ein viel höheres Alter zu, da nicht blos alttesta-

I. Land- und Forstwirthschaft.
in Europa daran dachte, seinen alten asiatischen Genossen, die Baum-
wolle, zu einer so einflussreichen Stellung zu erheben; anderseits
können wir jedoch auch daraus schliessen, dass die Beschaffung der
Seide aus Ostasien mit grossen Kosten verknüpft war und ihre Er-
zeugung in Europa während einer langen Periode nur langsame Fort-
schritte machte. Sie hatte eben mit Schwierigkeiten eigener Art zu
kämpfen. Die andern Webstoffe, wie Wolle, Baumwolle, Flachs,
Hanf etc. sind Produkte grösserer Thiere, oder von Pflanzen, deren
Natur leicht zu studieren, deren Pflege nicht sehr mühsam, und bei
denen man schon nach wenigen Monaten einer Ernte gewiss ist. Die
Seide dagegen verdanken wir einem kleinen Insect, dessen Leben an
eine bestimmte Pflanzengattung gebunden ist. Zwei Organismen sind
hier in Einklang zu bringen, von denen der eine, die Nährpflanze,
mindestens eine mehrjährige Entwickelung durchmachen muss, bevor
der andere, die Seidenraupe, seine Lebensthätigkeit beginnen kann,
und diese ist eine sehr abweichende von der unserer andern Haus-
thiere. Die Seidenraupe ist sehr wählerisch in ihrer Nahrung und
hat doch in der Gefangenschaft nicht die Mittel, diese Wahl selbst zu
treffen; sie besitzt keine Stimme, um Hunger oder Frost oder sonstiges
Missbehagen auszudrücken, und doch erliegt sie schädlichen Einflüssen
sehr rasch; denn ihr Leben ist kurz und darum zart. Das Erkennen
dessen, was ihr förderlich ist, das Vermeiden aller schädlichen Ein-
flüsse, erfordert genaue Beobachtungen, viel Umsicht, Sorgfalt, Fleiss
und Erfahrung. Ein einziges Versehen, eine Vernachlässigung der
Aufgabe von nur wenigen Stunden bei ihrer Pflege raubt dem Seiden-
züchter unter Umständen den Lohn für alle vorausgegangene Mühe
und Arbeit.

Unter solchen Verhältnissen, — und da nicht blos die Seiden-
raupe (Bombyx mori), sondern auch ihre Nährpflanze, der weisse
Maulbeerbaum (Morus alba L.) aus Ostasien eingeführt werden musste
—, findet man es begreiflich, wenn die Seidenzucht in Europa nur
langsam von Ost nach West und nordwärts vom Mittelmeer vorschritt,
umsomehr, da nebenbei jede Neuerung gegen Vorurtheile zu kämpfen
hat, besonders beim conservativen Landmann. So konnte z. B. auch
der sonst so einsichtsvolle Minister Sully nicht begreifen, dass ein so
unscheinbares Insect, wie die Seidenraupe, Frankreich wirklich Nutzen
bringen könne, und führte desshalb die Befehle Heinrich’s IV., für An-
lage von Seidenraupenzuchten zu sorgen, nicht ohne Widerstreben aus.

Gleich dem Theebau ist auch die Seidenzucht von China aus-
gegangen und hat sich zunächst über Japan verbreitet, doch kommt
ihr unzweifelhaft ein viel höheres Alter zu, da nicht blos alttesta-

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[220/0242] I. Land- und Forstwirthschaft. in Europa daran dachte, seinen alten asiatischen Genossen, die Baum- wolle, zu einer so einflussreichen Stellung zu erheben; anderseits können wir jedoch auch daraus schliessen, dass die Beschaffung der Seide aus Ostasien mit grossen Kosten verknüpft war und ihre Er- zeugung in Europa während einer langen Periode nur langsame Fort- schritte machte. Sie hatte eben mit Schwierigkeiten eigener Art zu kämpfen. Die andern Webstoffe, wie Wolle, Baumwolle, Flachs, Hanf etc. sind Produkte grösserer Thiere, oder von Pflanzen, deren Natur leicht zu studieren, deren Pflege nicht sehr mühsam, und bei denen man schon nach wenigen Monaten einer Ernte gewiss ist. Die Seide dagegen verdanken wir einem kleinen Insect, dessen Leben an eine bestimmte Pflanzengattung gebunden ist. Zwei Organismen sind hier in Einklang zu bringen, von denen der eine, die Nährpflanze, mindestens eine mehrjährige Entwickelung durchmachen muss, bevor der andere, die Seidenraupe, seine Lebensthätigkeit beginnen kann, und diese ist eine sehr abweichende von der unserer andern Haus- thiere. Die Seidenraupe ist sehr wählerisch in ihrer Nahrung und hat doch in der Gefangenschaft nicht die Mittel, diese Wahl selbst zu treffen; sie besitzt keine Stimme, um Hunger oder Frost oder sonstiges Missbehagen auszudrücken, und doch erliegt sie schädlichen Einflüssen sehr rasch; denn ihr Leben ist kurz und darum zart. Das Erkennen dessen, was ihr förderlich ist, das Vermeiden aller schädlichen Ein- flüsse, erfordert genaue Beobachtungen, viel Umsicht, Sorgfalt, Fleiss und Erfahrung. Ein einziges Versehen, eine Vernachlässigung der Aufgabe von nur wenigen Stunden bei ihrer Pflege raubt dem Seiden- züchter unter Umständen den Lohn für alle vorausgegangene Mühe und Arbeit. Unter solchen Verhältnissen, — und da nicht blos die Seiden- raupe (Bombyx mori), sondern auch ihre Nährpflanze, der weisse Maulbeerbaum (Morus alba L.) aus Ostasien eingeführt werden musste —, findet man es begreiflich, wenn die Seidenzucht in Europa nur langsam von Ost nach West und nordwärts vom Mittelmeer vorschritt, umsomehr, da nebenbei jede Neuerung gegen Vorurtheile zu kämpfen hat, besonders beim conservativen Landmann. So konnte z. B. auch der sonst so einsichtsvolle Minister Sully nicht begreifen, dass ein so unscheinbares Insect, wie die Seidenraupe, Frankreich wirklich Nutzen bringen könne, und führte desshalb die Befehle Heinrich’s IV., für An- lage von Seidenraupenzuchten zu sorgen, nicht ohne Widerstreben aus. Gleich dem Theebau ist auch die Seidenzucht von China aus- gegangen und hat sich zunächst über Japan verbreitet, doch kommt ihr unzweifelhaft ein viel höheres Alter zu, da nicht blos alttesta-

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan02_1886/242>, abgerufen am 29.03.2024.