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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

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schaft einrichten kann. So lautet, wie du weißest,
der erste Artickel unseres Frauenzimmer-Glaubens.

Mich dünckt, ich höre dich schon voller Verwun-
derung fragen: wie? zweiffelst du auch noch an die-
sem unvergleichlichen Frauenzimmer? Willst du
die Tugend einer Clarissa in Zweifel ziehen?

Nein! Jch unterstehe mich nicht, daran zu zweif-
feln! Meine Ehrfurcht erlaubt mir nicht, einen ei-
gentlichen Zweifel zu haben. Allein ich will dich wie-
der fragen: ist es nicht möglich, daß ihre Tugend eine
Frucht des Hochmuths ist? Wessen Tochter ist sie?
Jst sie nicht eine Tochter? Wenn sie ohne Sün-
de ist, wie kam sie dazu, daß sie ohne Sünde
empfangen und gebohren ward? Sie hat sich bis-
her von dem Hochmuth regieren lassen. Die
Hofnung, ein Muster aller Frauenzimmer zu wer-
den, hat sie bisher unüberwindlich gemacht. Jst
aber nicht dieser Hochmuth jetzund gestürtzt?
Wozu lassen sich Frauenzimmer und Manns-Per-
sonen bringen, wenn sie in betrübten Umständen
sind? Welches Gemüth kann dem Unglück wi-
derstehen? Der Hochmuth ist das vornehmste
Aussenwerck der Tugend des Frauenzimmers.
Man erniedrige eine Schöne, so wird sie mit
Nachdruck erniedriget werden.

Weiter! Wer sagt es, daß die Fräulein Cla-
rissa Harlowe
das Muster der Tugend, ja die
Tugend selbst sey?

Du wirst antworten: alle die sie kennen, und
die von ihr gehört haben.

Das
L 4



ſchaft einrichten kann. So lautet, wie du weißeſt,
der erſte Artickel unſeres Frauenzimmer-Glaubens.

Mich duͤnckt, ich hoͤre dich ſchon voller Verwun-
derung fragen: wie? zweiffelſt du auch noch an die-
ſem unvergleichlichen Frauenzimmer? Willſt du
die Tugend einer Clariſſa in Zweifel ziehen?

Nein! Jch unterſtehe mich nicht, daran zu zweif-
feln! Meine Ehrfurcht erlaubt mir nicht, einen ei-
gentlichen Zweifel zu haben. Allein ich will dich wie-
der fragen: iſt es nicht moͤglich, daß ihre Tugend eine
Frucht des Hochmuths iſt? Weſſen Tochter iſt ſie?
Jſt ſie nicht eine Tochter? Wenn ſie ohne Suͤn-
de iſt, wie kam ſie dazu, daß ſie ohne Suͤnde
empfangen und gebohren ward? Sie hat ſich bis-
her von dem Hochmuth regieren laſſen. Die
Hofnung, ein Muſter aller Frauenzimmer zu wer-
den, hat ſie bisher unuͤberwindlich gemacht. Jſt
aber nicht dieſer Hochmuth jetzund geſtuͤrtzt?
Wozu laſſen ſich Frauenzimmer und Manns-Per-
ſonen bringen, wenn ſie in betruͤbten Umſtaͤnden
ſind? Welches Gemuͤth kann dem Ungluͤck wi-
derſtehen? Der Hochmuth iſt das vornehmſte
Auſſenwerck der Tugend des Frauenzimmers.
Man erniedrige eine Schoͤne, ſo wird ſie mit
Nachdruck erniedriget werden.

Weiter! Wer ſagt es, daß die Fraͤulein Cla-
riſſa Harlowe
das Muſter der Tugend, ja die
Tugend ſelbſt ſey?

Du wirſt antworten: alle die ſie kennen, und
die von ihr gehoͤrt haben.

Das
L 4
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[167/0181] ſchaft einrichten kann. So lautet, wie du weißeſt, der erſte Artickel unſeres Frauenzimmer-Glaubens. Mich duͤnckt, ich hoͤre dich ſchon voller Verwun- derung fragen: wie? zweiffelſt du auch noch an die- ſem unvergleichlichen Frauenzimmer? Willſt du die Tugend einer Clariſſa in Zweifel ziehen? Nein! Jch unterſtehe mich nicht, daran zu zweif- feln! Meine Ehrfurcht erlaubt mir nicht, einen ei- gentlichen Zweifel zu haben. Allein ich will dich wie- der fragen: iſt es nicht moͤglich, daß ihre Tugend eine Frucht des Hochmuths iſt? Weſſen Tochter iſt ſie? Jſt ſie nicht eine Tochter? Wenn ſie ohne Suͤn- de iſt, wie kam ſie dazu, daß ſie ohne Suͤnde empfangen und gebohren ward? Sie hat ſich bis- her von dem Hochmuth regieren laſſen. Die Hofnung, ein Muſter aller Frauenzimmer zu wer- den, hat ſie bisher unuͤberwindlich gemacht. Jſt aber nicht dieſer Hochmuth jetzund geſtuͤrtzt? Wozu laſſen ſich Frauenzimmer und Manns-Per- ſonen bringen, wenn ſie in betruͤbten Umſtaͤnden ſind? Welches Gemuͤth kann dem Ungluͤck wi- derſtehen? Der Hochmuth iſt das vornehmſte Auſſenwerck der Tugend des Frauenzimmers. Man erniedrige eine Schoͤne, ſo wird ſie mit Nachdruck erniedriget werden. Weiter! Wer ſagt es, daß die Fraͤulein Cla- riſſa Harlowe das Muſter der Tugend, ja die Tugend ſelbſt ſey? Du wirſt antworten: alle die ſie kennen, und die von ihr gehoͤrt haben. Das L 4

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/181>, abgerufen am 28.03.2024.