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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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III.
Die Anfänge des Pflanzenornaments und die
Entwicklung der ornamentalen Ranke.


Es ist heute schwer zu entscheiden, welches von den beiden orga-
nischen Bereichen der Natur, das animalische oder das vegetabilische,
dem Menschen bei seinen ersten Versuchen, bestimmte körperliche Er-
scheinungen aus seiner Umgebung zeichnend auf einer Fläche zu repro-
duciren, grössere Schwierigkeiten bereitet hat. Die Pflanze hat diesbe-
züglich vor den Thieren den Vortheil voraus, dass ihre Theile, wenigstens
für den naiven Beschauer, scheinbar in absoluter Ruhe verharren, wo-
durch es dem Menschen leichter geworden sein könnte, ein typisches Bild
von den Pflanzen zu gewinnen, als von den ihre Haltung und Lage
beständig verändernden Thieren. Aber ebensowenig wie bei den Thieren,
insbesondere bei den der Aufmerksamkeit des Menschen zunächst ge-
rückten Vierfüsslern, liegen bei den Pflanzen alle ihre Theile in einer
und derselben Fläche. Es musste also auch bei der Reproduktion
der Pflanzen eine Stilisirung Platz greifen, sobald der Mensch dieselben
auf eine gegebene Fläche (Stein, Bein, Thon) zeichnen oder graviren
wollte. Dies äussert sich an den frühesten, uns bisher bekannt gewor-
denen Pflanzendarstellungen namentlich in der symmetrischen Abzwei-
gung der Seitensprösslinge rechts und links vom gerade emporstrebenden
Schaft, während in der Natur die Zweige strahlenförmig um den Stamm
herum angeordnet sind, ferner in der Darstellung der Blätter als wären
sie von oben gesehen, während dieselben dem seitwärts gedachten Be-
schauer mehr oder minder das Profil zukehren. Diese Flach-Stilisirung
blieb so lange in Kraft, bis allmälig die perspektivische Darstellung,
aufkam, vermittels welcher man sich in Stand gesetzt sah, körperliche
Erscheinungen mit sämmtlichen Merkmalen ihrer räumlichen Abstufung
und Ausdehnung auf eine ebene Fläche zu bringen.


III.
Die Anfänge des Pflanzenornaments und die
Entwicklung der ornamentalen Ranke.


Es ist heute schwer zu entscheiden, welches von den beiden orga-
nischen Bereichen der Natur, das animalische oder das vegetabilische,
dem Menschen bei seinen ersten Versuchen, bestimmte körperliche Er-
scheinungen aus seiner Umgebung zeichnend auf einer Fläche zu repro-
duciren, grössere Schwierigkeiten bereitet hat. Die Pflanze hat diesbe-
züglich vor den Thieren den Vortheil voraus, dass ihre Theile, wenigstens
für den naiven Beschauer, scheinbar in absoluter Ruhe verharren, wo-
durch es dem Menschen leichter geworden sein könnte, ein typisches Bild
von den Pflanzen zu gewinnen, als von den ihre Haltung und Lage
beständig verändernden Thieren. Aber ebensowenig wie bei den Thieren,
insbesondere bei den der Aufmerksamkeit des Menschen zunächst ge-
rückten Vierfüsslern, liegen bei den Pflanzen alle ihre Theile in einer
und derselben Fläche. Es musste also auch bei der Reproduktion
der Pflanzen eine Stilisirung Platz greifen, sobald der Mensch dieselben
auf eine gegebene Fläche (Stein, Bein, Thon) zeichnen oder graviren
wollte. Dies äussert sich an den frühesten, uns bisher bekannt gewor-
denen Pflanzendarstellungen namentlich in der symmetrischen Abzwei-
gung der Seitensprösslinge rechts und links vom gerade emporstrebenden
Schaft, während in der Natur die Zweige strahlenförmig um den Stamm
herum angeordnet sind, ferner in der Darstellung der Blätter als wären
sie von oben gesehen, während dieselben dem seitwärts gedachten Be-
schauer mehr oder minder das Profil zukehren. Diese Flach-Stilisirung
blieb so lange in Kraft, bis allmälig die perspektivische Darstellung,
aufkam, vermittels welcher man sich in Stand gesetzt sah, körperliche
Erscheinungen mit sämmtlichen Merkmalen ihrer räumlichen Abstufung
und Ausdehnung auf eine ebene Fläche zu bringen.


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[[41]/0067] III. Die Anfänge des Pflanzenornaments und die Entwicklung der ornamentalen Ranke. Es ist heute schwer zu entscheiden, welches von den beiden orga- nischen Bereichen der Natur, das animalische oder das vegetabilische, dem Menschen bei seinen ersten Versuchen, bestimmte körperliche Er- scheinungen aus seiner Umgebung zeichnend auf einer Fläche zu repro- duciren, grössere Schwierigkeiten bereitet hat. Die Pflanze hat diesbe- züglich vor den Thieren den Vortheil voraus, dass ihre Theile, wenigstens für den naiven Beschauer, scheinbar in absoluter Ruhe verharren, wo- durch es dem Menschen leichter geworden sein könnte, ein typisches Bild von den Pflanzen zu gewinnen, als von den ihre Haltung und Lage beständig verändernden Thieren. Aber ebensowenig wie bei den Thieren, insbesondere bei den der Aufmerksamkeit des Menschen zunächst ge- rückten Vierfüsslern, liegen bei den Pflanzen alle ihre Theile in einer und derselben Fläche. Es musste also auch bei der Reproduktion der Pflanzen eine Stilisirung Platz greifen, sobald der Mensch dieselben auf eine gegebene Fläche (Stein, Bein, Thon) zeichnen oder graviren wollte. Dies äussert sich an den frühesten, uns bisher bekannt gewor- denen Pflanzendarstellungen namentlich in der symmetrischen Abzwei- gung der Seitensprösslinge rechts und links vom gerade emporstrebenden Schaft, während in der Natur die Zweige strahlenförmig um den Stamm herum angeordnet sind, ferner in der Darstellung der Blätter als wären sie von oben gesehen, während dieselben dem seitwärts gedachten Be- schauer mehr oder minder das Profil zukehren. Diese Flach-Stilisirung blieb so lange in Kraft, bis allmälig die perspektivische Darstellung, aufkam, vermittels welcher man sich in Stand gesetzt sah, körperliche Erscheinungen mit sämmtlichen Merkmalen ihrer räumlichen Abstufung und Ausdehnung auf eine ebene Fläche zu bringen.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. [41]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/67>, abgerufen am 29.03.2024.