Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite
1. Egyptisches.

Dieser Punkt ist zu wichtig, als dass es ungerechtfertigt erscheinen
könnte noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Zum besseren Ver-
ständnisse desselben will ich noch eine Parallele dazu von einem
anderen, ganz bestimmten Kunstgebiete beibringen. Die Altegypter
waren unseres Wissens auch die Ersten, die eine wahrhaft monumentale
Baukunst gepflegt haben. Die Voraussetzung für eine solche ist die
Verwendung unvergänglichen Materials: des Steins oder seines Surro-
gats, des Ziegels. Die Egypter haben nun ihre Tempel bereits in Stein
ausgeführt -- Tempel von solcher Dauerhaftigkeit, dass sie, wie bekannt,
vielfach noch bis auf den heutigen Tag aufrecht stehen geblieben sind.
Die Erfindung des Steinbaues war eine höchst respektable technische
Leistung, aber auch von künstlerischem Standpunkte muss uns der
egyptische Säulensaal mit steinerner Decke, als am Anfange aller monu-
mentalen Architektur stehend, als eine für den ersten Anlauf höchst
bedeutsame Errungenschaft erscheinen. Seine künstlerischen Qualitäten
verräth der egyptische Tempel aber im Wesentlichen bloss im Innern:
die einfach geböschten massiven Aussenmauern entbehren -- mit Aus-
nahme der mehr äusserlich angefügten Frontbeigaben -- fast jeder
künstlerischen Behandlung. Den Ausgleich, für den auch die Meso-
potamier -- auf anderen Wegen suchend -- noch keine völlig befrie-
digende Formel gefunden haben, wurde erst von den Hellenen zu Stande
gebracht, indem sie dem Säulenbau auch im Aeusseren, nach der rein
formellen Seite, jene harmonische Durchbildung zu verleihen wussten,
dass der hellenische Tempel als unvergleichliche künstlerische Einheit,
und als solche als Unicum in der ganzen bisherigen Kunstgeschichte
dasteht. Das Gleiche lässt sich nun auch auf dem Gebiete der dekora-
tiven Künste wahrnehmen, auf dem die Formen hauptsächlich "gefällig"
sein sollen, und die "Bedeutung" wenigstens um ihrer selbst willen in
der Regel nicht gesucht wird. Auch die Ornamentik dankt den Hel-
lenen die reifste Durchbildung im Sinne des Formschönen, unter gleich-
zeitiger Heranziehung inhaltlich bedeutsamer Formen, die sich aber den
maassgebenden dekorativen Anforderungen stets gefällig unterzuordnen,
anzuschmiegen wissen. Den Egyptern konnte es nicht vergönnt sein,
es auch noch zu dieser Vollkommenheit zu bringen; sie hatten reich-
lich ihr Tagewerk gethan, und mussten jüngeren, ungenutzten Volks-
kräften die Fortführung des Begonnenen überlassen. Es wird nun eine
überaus lehrreiche Erscheinung sein zu beobachten, wie die altorien-
talischen Kulturvölker, die allem Anscheine nach von den Egyptern
den entscheidenden Anstoss zu ihrem ferneren Kunstschaffen erhalten

1. Egyptisches.

Dieser Punkt ist zu wichtig, als dass es ungerechtfertigt erscheinen
könnte noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Zum besseren Ver-
ständnisse desselben will ich noch eine Parallele dazu von einem
anderen, ganz bestimmten Kunstgebiete beibringen. Die Altegypter
waren unseres Wissens auch die Ersten, die eine wahrhaft monumentale
Baukunst gepflegt haben. Die Voraussetzung für eine solche ist die
Verwendung unvergänglichen Materials: des Steins oder seines Surro-
gats, des Ziegels. Die Egypter haben nun ihre Tempel bereits in Stein
ausgeführt — Tempel von solcher Dauerhaftigkeit, dass sie, wie bekannt,
vielfach noch bis auf den heutigen Tag aufrecht stehen geblieben sind.
Die Erfindung des Steinbaues war eine höchst respektable technische
Leistung, aber auch von künstlerischem Standpunkte muss uns der
egyptische Säulensaal mit steinerner Decke, als am Anfange aller monu-
mentalen Architektur stehend, als eine für den ersten Anlauf höchst
bedeutsame Errungenschaft erscheinen. Seine künstlerischen Qualitäten
verräth der egyptische Tempel aber im Wesentlichen bloss im Innern:
die einfach geböschten massiven Aussenmauern entbehren — mit Aus-
nahme der mehr äusserlich angefügten Frontbeigaben — fast jeder
künstlerischen Behandlung. Den Ausgleich, für den auch die Meso-
potamier — auf anderen Wegen suchend — noch keine völlig befrie-
digende Formel gefunden haben, wurde erst von den Hellenen zu Stande
gebracht, indem sie dem Säulenbau auch im Aeusseren, nach der rein
formellen Seite, jene harmonische Durchbildung zu verleihen wussten,
dass der hellenische Tempel als unvergleichliche künstlerische Einheit,
und als solche als Unicum in der ganzen bisherigen Kunstgeschichte
dasteht. Das Gleiche lässt sich nun auch auf dem Gebiete der dekora-
tiven Künste wahrnehmen, auf dem die Formen hauptsächlich „gefällig“
sein sollen, und die „Bedeutung“ wenigstens um ihrer selbst willen in
der Regel nicht gesucht wird. Auch die Ornamentik dankt den Hel-
lenen die reifste Durchbildung im Sinne des Formschönen, unter gleich-
zeitiger Heranziehung inhaltlich bedeutsamer Formen, die sich aber den
maassgebenden dekorativen Anforderungen stets gefällig unterzuordnen,
anzuschmiegen wissen. Den Egyptern konnte es nicht vergönnt sein,
es auch noch zu dieser Vollkommenheit zu bringen; sie hatten reich-
lich ihr Tagewerk gethan, und mussten jüngeren, ungenutzten Volks-
kräften die Fortführung des Begonnenen überlassen. Es wird nun eine
überaus lehrreiche Erscheinung sein zu beobachten, wie die altorien-
talischen Kulturvölker, die allem Anscheine nach von den Egyptern
den entscheidenden Anstoss zu ihrem ferneren Kunstschaffen erhalten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0111" n="85"/>
            <fw place="top" type="header">1. Egyptisches.</fw><lb/>
            <p>Dieser Punkt ist zu wichtig, als dass es ungerechtfertigt erscheinen<lb/>
könnte noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Zum besseren Ver-<lb/>
ständnisse desselben will ich noch eine Parallele dazu von einem<lb/>
anderen, ganz bestimmten Kunstgebiete beibringen. Die Altegypter<lb/>
waren unseres Wissens auch die Ersten, die eine wahrhaft monumentale<lb/>
Baukunst gepflegt haben. Die Voraussetzung für eine solche ist die<lb/>
Verwendung unvergänglichen Materials: des Steins oder seines Surro-<lb/>
gats, des Ziegels. Die Egypter haben nun ihre Tempel bereits in Stein<lb/>
ausgeführt &#x2014; Tempel von solcher Dauerhaftigkeit, dass sie, wie bekannt,<lb/>
vielfach noch bis auf den heutigen Tag aufrecht stehen geblieben sind.<lb/>
Die Erfindung des Steinbaues war eine höchst respektable technische<lb/>
Leistung, aber auch von künstlerischem Standpunkte muss uns der<lb/>
egyptische Säulensaal mit steinerner Decke, als am Anfange aller monu-<lb/>
mentalen Architektur stehend, als eine für den ersten Anlauf höchst<lb/>
bedeutsame Errungenschaft erscheinen. Seine künstlerischen Qualitäten<lb/>
verräth der egyptische Tempel aber im Wesentlichen bloss im Innern:<lb/>
die einfach geböschten massiven Aussenmauern entbehren &#x2014; mit Aus-<lb/>
nahme der mehr äusserlich angefügten Frontbeigaben &#x2014; fast jeder<lb/>
künstlerischen Behandlung. Den Ausgleich, für den auch die Meso-<lb/>
potamier &#x2014; auf anderen Wegen suchend &#x2014; noch keine völlig befrie-<lb/>
digende Formel gefunden haben, wurde erst von den Hellenen zu Stande<lb/>
gebracht, indem sie dem Säulenbau auch im Aeusseren, nach der rein<lb/>
formellen Seite, jene harmonische Durchbildung zu verleihen wussten,<lb/>
dass der hellenische Tempel als unvergleichliche künstlerische Einheit,<lb/>
und als solche als Unicum in der ganzen bisherigen Kunstgeschichte<lb/>
dasteht. Das Gleiche lässt sich nun auch auf dem Gebiete der dekora-<lb/>
tiven Künste wahrnehmen, auf dem die Formen hauptsächlich &#x201E;gefällig&#x201C;<lb/>
sein sollen, und die &#x201E;Bedeutung&#x201C; wenigstens um ihrer selbst willen in<lb/>
der Regel nicht gesucht wird. Auch die Ornamentik dankt den Hel-<lb/>
lenen die reifste Durchbildung im Sinne des Formschönen, unter gleich-<lb/>
zeitiger Heranziehung inhaltlich bedeutsamer Formen, die sich aber den<lb/>
maassgebenden dekorativen Anforderungen stets gefällig unterzuordnen,<lb/>
anzuschmiegen wissen. Den Egyptern konnte es nicht vergönnt sein,<lb/>
es auch noch zu dieser Vollkommenheit zu bringen; sie hatten reich-<lb/>
lich ihr Tagewerk gethan, und mussten jüngeren, ungenutzten Volks-<lb/>
kräften die Fortführung des Begonnenen überlassen. Es wird nun eine<lb/>
überaus lehrreiche Erscheinung sein zu beobachten, wie die altorien-<lb/>
talischen Kulturvölker, die allem Anscheine nach von den Egyptern<lb/>
den entscheidenden Anstoss zu ihrem ferneren Kunstschaffen erhalten<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0111] 1. Egyptisches. Dieser Punkt ist zu wichtig, als dass es ungerechtfertigt erscheinen könnte noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Zum besseren Ver- ständnisse desselben will ich noch eine Parallele dazu von einem anderen, ganz bestimmten Kunstgebiete beibringen. Die Altegypter waren unseres Wissens auch die Ersten, die eine wahrhaft monumentale Baukunst gepflegt haben. Die Voraussetzung für eine solche ist die Verwendung unvergänglichen Materials: des Steins oder seines Surro- gats, des Ziegels. Die Egypter haben nun ihre Tempel bereits in Stein ausgeführt — Tempel von solcher Dauerhaftigkeit, dass sie, wie bekannt, vielfach noch bis auf den heutigen Tag aufrecht stehen geblieben sind. Die Erfindung des Steinbaues war eine höchst respektable technische Leistung, aber auch von künstlerischem Standpunkte muss uns der egyptische Säulensaal mit steinerner Decke, als am Anfange aller monu- mentalen Architektur stehend, als eine für den ersten Anlauf höchst bedeutsame Errungenschaft erscheinen. Seine künstlerischen Qualitäten verräth der egyptische Tempel aber im Wesentlichen bloss im Innern: die einfach geböschten massiven Aussenmauern entbehren — mit Aus- nahme der mehr äusserlich angefügten Frontbeigaben — fast jeder künstlerischen Behandlung. Den Ausgleich, für den auch die Meso- potamier — auf anderen Wegen suchend — noch keine völlig befrie- digende Formel gefunden haben, wurde erst von den Hellenen zu Stande gebracht, indem sie dem Säulenbau auch im Aeusseren, nach der rein formellen Seite, jene harmonische Durchbildung zu verleihen wussten, dass der hellenische Tempel als unvergleichliche künstlerische Einheit, und als solche als Unicum in der ganzen bisherigen Kunstgeschichte dasteht. Das Gleiche lässt sich nun auch auf dem Gebiete der dekora- tiven Künste wahrnehmen, auf dem die Formen hauptsächlich „gefällig“ sein sollen, und die „Bedeutung“ wenigstens um ihrer selbst willen in der Regel nicht gesucht wird. Auch die Ornamentik dankt den Hel- lenen die reifste Durchbildung im Sinne des Formschönen, unter gleich- zeitiger Heranziehung inhaltlich bedeutsamer Formen, die sich aber den maassgebenden dekorativen Anforderungen stets gefällig unterzuordnen, anzuschmiegen wissen. Den Egyptern konnte es nicht vergönnt sein, es auch noch zu dieser Vollkommenheit zu bringen; sie hatten reich- lich ihr Tagewerk gethan, und mussten jüngeren, ungenutzten Volks- kräften die Fortführung des Begonnenen überlassen. Es wird nun eine überaus lehrreiche Erscheinung sein zu beobachten, wie die altorien- talischen Kulturvölker, die allem Anscheine nach von den Egyptern den entscheidenden Anstoss zu ihrem ferneren Kunstschaffen erhalten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/111
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/111>, abgerufen am 25.04.2024.