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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.

Wir haben die Entstehung und Entwicklung der Pflanzenornamen-
tik bei den altorientalischen Kulturvölkern verfolgt bis zu dem späten
Momente herab, da der bewegliche hellenische Geist seine zunächst
friedliche Eroberung des Ostens bereits begonnen hatte. Wie auf allen
übrigen Gebieten des Kunstschaffens sehen wir auch auf demjenigen
der Ornamentik die griechische Kunst spätestens in hellenistischer Zeit
den Orient in Besitz nehmen. Zweifellos war die abendländische Deko-
rationsweise bereits lange vor den Perserkriegen sowohl in ihren Grund-
principien als in ihren Einzelmotiven gegenüber der orientalischen die
vollkommenere, stärkere geworden. Das Ziel, das schon der altorientali-
schen Ornamentik im Allgemeinen vorgeschwebt hatte und dem sich die
im Laufe der Geschichte einander ablösenden Kulturvölker des Alten
Orients, zwar mit stufenweisem Fortschritt, aber schliesslich doch nur in
unvollkommener Weise genähert haben, -- dieses Ziel wurde zuerst und
allein von den Griechen erreicht: nämlich jene harmonische, dem inneren
Wesen eines jeden Kunstwerks und seinen äusseren Entstehungs- und
Zweckbedingungen entsprechende Ausstattung mit Verzierungsformen,
jene "tektonische" Scheidung zwischen stofflichem Grund und schmücken-
dem Ornament, zwischen statisch Wirksamem und Indifferentem, zwi-
schen Rahmen und Füllung, welche allmälig bewusst durchgeführte
Scheidung die gesammte Kunstentwicklung der Mittelmeervölker (ein-
schliesslich Nordasiens bis jenseits des Iran, das ja gleichfalls allezeit
nach dem Mittelmeere und nicht nach dem Osten Asiens gravitirte) von
derjenigen in der grossen ostasiatischen Kulturwelt anscheinend grund-
sätzlich unterscheidet.

Die schönste und bedeutungsvollste Errungenschaft der
hellenischen Ornamentik, nach der schon die altorientalische
Kunst gestrebt hatte, ist die rhythmisch bewegte Pflanzen-
ranke
; in ihr gipfelt das Verdienst der Griechen um die Entwicklung
des Pflanzenornaments. Die vegetabilischen Einzelformen, wie sie uns
etwa in der griechischen Kunst nach Beendigung der Perserkriege aus-
gebildet entgegentreten, erscheinen dagegen durchwegs über jeden
Zweifel hinaus von den früheren, den altorientalischen Stilen, über-
nommen und wurden von den Griechen lediglich unter Absicht auf
Erreichung vollkommenster formaler Schönheit ausgestattet. Beides --
sowohl die echt hellenische Ranke als das stilisirte vegetabilische Einzel-

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.

Wir haben die Entstehung und Entwicklung der Pflanzenornamen-
tik bei den altorientalischen Kulturvölkern verfolgt bis zu dem späten
Momente herab, da der bewegliche hellenische Geist seine zunächst
friedliche Eroberung des Ostens bereits begonnen hatte. Wie auf allen
übrigen Gebieten des Kunstschaffens sehen wir auch auf demjenigen
der Ornamentik die griechische Kunst spätestens in hellenistischer Zeit
den Orient in Besitz nehmen. Zweifellos war die abendländische Deko-
rationsweise bereits lange vor den Perserkriegen sowohl in ihren Grund-
principien als in ihren Einzelmotiven gegenüber der orientalischen die
vollkommenere, stärkere geworden. Das Ziel, das schon der altorientali-
schen Ornamentik im Allgemeinen vorgeschwebt hatte und dem sich die
im Laufe der Geschichte einander ablösenden Kulturvölker des Alten
Orients, zwar mit stufenweisem Fortschritt, aber schliesslich doch nur in
unvollkommener Weise genähert haben, — dieses Ziel wurde zuerst und
allein von den Griechen erreicht: nämlich jene harmonische, dem inneren
Wesen eines jeden Kunstwerks und seinen äusseren Entstehungs- und
Zweckbedingungen entsprechende Ausstattung mit Verzierungsformen,
jene „tektonische“ Scheidung zwischen stofflichem Grund und schmücken-
dem Ornament, zwischen statisch Wirksamem und Indifferentem, zwi-
schen Rahmen und Füllung, welche allmälig bewusst durchgeführte
Scheidung die gesammte Kunstentwicklung der Mittelmeervölker (ein-
schliesslich Nordasiens bis jenseits des Iran, das ja gleichfalls allezeit
nach dem Mittelmeere und nicht nach dem Osten Asiens gravitirte) von
derjenigen in der grossen ostasiatischen Kulturwelt anscheinend grund-
sätzlich unterscheidet.

Die schönste und bedeutungsvollste Errungenschaft der
hellenischen Ornamentik, nach der schon die altorientalische
Kunst gestrebt hatte, ist die rhythmisch bewegte Pflanzen-
ranke
; in ihr gipfelt das Verdienst der Griechen um die Entwicklung
des Pflanzenornaments. Die vegetabilischen Einzelformen, wie sie uns
etwa in der griechischen Kunst nach Beendigung der Perserkriege aus-
gebildet entgegentreten, erscheinen dagegen durchwegs über jeden
Zweifel hinaus von den früheren, den altorientalischen Stilen, über-
nommen und wurden von den Griechen lediglich unter Absicht auf
Erreichung vollkommenster formaler Schönheit ausgestattet. Beides —
sowohl die echt hellenische Ranke als das stilisirte vegetabilische Einzel-

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[112/0138] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. Wir haben die Entstehung und Entwicklung der Pflanzenornamen- tik bei den altorientalischen Kulturvölkern verfolgt bis zu dem späten Momente herab, da der bewegliche hellenische Geist seine zunächst friedliche Eroberung des Ostens bereits begonnen hatte. Wie auf allen übrigen Gebieten des Kunstschaffens sehen wir auch auf demjenigen der Ornamentik die griechische Kunst spätestens in hellenistischer Zeit den Orient in Besitz nehmen. Zweifellos war die abendländische Deko- rationsweise bereits lange vor den Perserkriegen sowohl in ihren Grund- principien als in ihren Einzelmotiven gegenüber der orientalischen die vollkommenere, stärkere geworden. Das Ziel, das schon der altorientali- schen Ornamentik im Allgemeinen vorgeschwebt hatte und dem sich die im Laufe der Geschichte einander ablösenden Kulturvölker des Alten Orients, zwar mit stufenweisem Fortschritt, aber schliesslich doch nur in unvollkommener Weise genähert haben, — dieses Ziel wurde zuerst und allein von den Griechen erreicht: nämlich jene harmonische, dem inneren Wesen eines jeden Kunstwerks und seinen äusseren Entstehungs- und Zweckbedingungen entsprechende Ausstattung mit Verzierungsformen, jene „tektonische“ Scheidung zwischen stofflichem Grund und schmücken- dem Ornament, zwischen statisch Wirksamem und Indifferentem, zwi- schen Rahmen und Füllung, welche allmälig bewusst durchgeführte Scheidung die gesammte Kunstentwicklung der Mittelmeervölker (ein- schliesslich Nordasiens bis jenseits des Iran, das ja gleichfalls allezeit nach dem Mittelmeere und nicht nach dem Osten Asiens gravitirte) von derjenigen in der grossen ostasiatischen Kulturwelt anscheinend grund- sätzlich unterscheidet. Die schönste und bedeutungsvollste Errungenschaft der hellenischen Ornamentik, nach der schon die altorientalische Kunst gestrebt hatte, ist die rhythmisch bewegte Pflanzen- ranke; in ihr gipfelt das Verdienst der Griechen um die Entwicklung des Pflanzenornaments. Die vegetabilischen Einzelformen, wie sie uns etwa in der griechischen Kunst nach Beendigung der Perserkriege aus- gebildet entgegentreten, erscheinen dagegen durchwegs über jeden Zweifel hinaus von den früheren, den altorientalischen Stilen, über- nommen und wurden von den Griechen lediglich unter Absicht auf Erreichung vollkommenster formaler Schönheit ausgestattet. Beides — sowohl die echt hellenische Ranke als das stilisirte vegetabilische Einzel-

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/138>, abgerufen am 28.03.2024.