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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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2. Der Dipylon-Stil.
des Kunstschaffens gelegen sind; doch empfanden sie von Ulrich Köhler
bis auf Goodyear immerhin die Verpflichtung, auch auf dem Gebiete der
Kunst das Ungriechische im Mykenischen, das Griechische im Dipylon
darzuthun. Das Erstere fiel anscheinend nicht schwer: haben doch
auch wir Gelegenheit gehabt, die zahlreichen Elemente zweifellos egyp-
tischer Herkunft in der mykenischen Formenwelt zu beobachten. Was
aber den griechischen Charakter im Dipylon betrifft, so hat den Ver-
tretern dieser Meinung Studniczka61) am bündigsten das Wort von der
Lippe weggesprochen. Ihm vertritt der geometrische Stil der einge-
wanderten Hellenenstämme das Princip strenger Zucht, mittels deren
alle Entlehnungen aus dem überquellenden Formenreichthum des Orients,
von den "mykenischen" angefangen, zu echt hellenischem Gute umge-
prägt wurden.

Ebensowenig wie die Lösung der "mykenischen Frage" nach ihrer
ethnographischen Seite kann die Klärung des Verhältnisses zwischen
den Trägern der mykenischen und der Dipylon-Kultur hier beabsichtigt
sein. Aber es muss daran erinnert werden, dass die Betrachtung des
Pflanzenornaments in der mykenischen Dekoration das Vorhandensein
specifisch griechischer Errungenschaften ergeben hat, die wir in den
altorientalischen Künsten vergebens suchen, und ebenso vergebens im
Dipylon. Dass die Träger der Dipylonkultur im späteren Hellenen-
thum aufgegangen sind, soll darum keineswegs bestritten werden; aber
die schöpferischen "Keime des Griechenthums" vermögen wir weit mehr
im Mykenischen zu verfolgen, weshalb wir uns vorhin (S. 127) den Schluss
verstattet haben, dass die Träger der mykenischen Kultur, mögen die-
selben nun Karer oder Achäer gewesen sein, eine sehr wesentliche Com-
ponente des späteren hellenischen Volksthums ausgemacht haben müssen.

Wenn es noch eines Beweises bedürfte, dass das Eindringen des
geometrischen Stils an Stelle des mykenischen einen Rückschritt, und
nichts als einen Rückschritt bedeutet hat, so haben ihn die Griechen
selbst damit geliefert, dass sie angesichts der Aussichtslosigkeit, mit
diesem Stil etwas anzufangen, sich wiederum an die ursprüngliche
Quelle ihrer wichtigsten Zierformen, an den Orient, gewendet haben62).

61) Athen, Mitth. 1887, 24.
62) Analoges hatten wir Gelegenheit in der assyrischen Kunst zu beob-
achten, (S. 93) wo uns auch zur Zeit der Sargoniden reiner egyptisch stilisirte
Blumentypen entgegengetreten sind, als an den älteren Denkmälern aus der
Zeit des Assurnasirpal u. s. w. Freilich mochten die Gründe da und dort ver-
schiedene gewesen sein.

2. Der Dipylon-Stil.
des Kunstschaffens gelegen sind; doch empfanden sie von Ulrich Köhler
bis auf Goodyear immerhin die Verpflichtung, auch auf dem Gebiete der
Kunst das Ungriechische im Mykenischen, das Griechische im Dipylon
darzuthun. Das Erstere fiel anscheinend nicht schwer: haben doch
auch wir Gelegenheit gehabt, die zahlreichen Elemente zweifellos egyp-
tischer Herkunft in der mykenischen Formenwelt zu beobachten. Was
aber den griechischen Charakter im Dipylon betrifft, so hat den Ver-
tretern dieser Meinung Studniczka61) am bündigsten das Wort von der
Lippe weggesprochen. Ihm vertritt der geometrische Stil der einge-
wanderten Hellenenstämme das Princip strenger Zucht, mittels deren
alle Entlehnungen aus dem überquellenden Formenreichthum des Orients,
von den „mykenischen“ angefangen, zu echt hellenischem Gute umge-
prägt wurden.

Ebensowenig wie die Lösung der „mykenischen Frage“ nach ihrer
ethnographischen Seite kann die Klärung des Verhältnisses zwischen
den Trägern der mykenischen und der Dipylon-Kultur hier beabsichtigt
sein. Aber es muss daran erinnert werden, dass die Betrachtung des
Pflanzenornaments in der mykenischen Dekoration das Vorhandensein
specifisch griechischer Errungenschaften ergeben hat, die wir in den
altorientalischen Künsten vergebens suchen, und ebenso vergebens im
Dipylon. Dass die Träger der Dipylonkultur im späteren Hellenen-
thum aufgegangen sind, soll darum keineswegs bestritten werden; aber
die schöpferischen „Keime des Griechenthums“ vermögen wir weit mehr
im Mykenischen zu verfolgen, weshalb wir uns vorhin (S. 127) den Schluss
verstattet haben, dass die Träger der mykenischen Kultur, mögen die-
selben nun Karer oder Achäer gewesen sein, eine sehr wesentliche Com-
ponente des späteren hellenischen Volksthums ausgemacht haben müssen.

Wenn es noch eines Beweises bedürfte, dass das Eindringen des
geometrischen Stils an Stelle des mykenischen einen Rückschritt, und
nichts als einen Rückschritt bedeutet hat, so haben ihn die Griechen
selbst damit geliefert, dass sie angesichts der Aussichtslosigkeit, mit
diesem Stil etwas anzufangen, sich wiederum an die ursprüngliche
Quelle ihrer wichtigsten Zierformen, an den Orient, gewendet haben62).

61) Athen, Mitth. 1887, 24.
62) Analoges hatten wir Gelegenheit in der assyrischen Kunst zu beob-
achten, (S. 93) wo uns auch zur Zeit der Sargoniden reiner egyptisch stilisirte
Blumentypen entgegengetreten sind, als an den älteren Denkmälern aus der
Zeit des Assurnasirpal u. s. w. Freilich mochten die Gründe da und dort ver-
schiedene gewesen sein.
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[153/0179] 2. Der Dipylon-Stil. des Kunstschaffens gelegen sind; doch empfanden sie von Ulrich Köhler bis auf Goodyear immerhin die Verpflichtung, auch auf dem Gebiete der Kunst das Ungriechische im Mykenischen, das Griechische im Dipylon darzuthun. Das Erstere fiel anscheinend nicht schwer: haben doch auch wir Gelegenheit gehabt, die zahlreichen Elemente zweifellos egyp- tischer Herkunft in der mykenischen Formenwelt zu beobachten. Was aber den griechischen Charakter im Dipylon betrifft, so hat den Ver- tretern dieser Meinung Studniczka 61) am bündigsten das Wort von der Lippe weggesprochen. Ihm vertritt der geometrische Stil der einge- wanderten Hellenenstämme das Princip strenger Zucht, mittels deren alle Entlehnungen aus dem überquellenden Formenreichthum des Orients, von den „mykenischen“ angefangen, zu echt hellenischem Gute umge- prägt wurden. Ebensowenig wie die Lösung der „mykenischen Frage“ nach ihrer ethnographischen Seite kann die Klärung des Verhältnisses zwischen den Trägern der mykenischen und der Dipylon-Kultur hier beabsichtigt sein. Aber es muss daran erinnert werden, dass die Betrachtung des Pflanzenornaments in der mykenischen Dekoration das Vorhandensein specifisch griechischer Errungenschaften ergeben hat, die wir in den altorientalischen Künsten vergebens suchen, und ebenso vergebens im Dipylon. Dass die Träger der Dipylonkultur im späteren Hellenen- thum aufgegangen sind, soll darum keineswegs bestritten werden; aber die schöpferischen „Keime des Griechenthums“ vermögen wir weit mehr im Mykenischen zu verfolgen, weshalb wir uns vorhin (S. 127) den Schluss verstattet haben, dass die Träger der mykenischen Kultur, mögen die- selben nun Karer oder Achäer gewesen sein, eine sehr wesentliche Com- ponente des späteren hellenischen Volksthums ausgemacht haben müssen. Wenn es noch eines Beweises bedürfte, dass das Eindringen des geometrischen Stils an Stelle des mykenischen einen Rückschritt, und nichts als einen Rückschritt bedeutet hat, so haben ihn die Griechen selbst damit geliefert, dass sie angesichts der Aussichtslosigkeit, mit diesem Stil etwas anzufangen, sich wiederum an die ursprüngliche Quelle ihrer wichtigsten Zierformen, an den Orient, gewendet haben 62). 61) Athen, Mitth. 1887, 24. 62) Analoges hatten wir Gelegenheit in der assyrischen Kunst zu beob- achten, (S. 93) wo uns auch zur Zeit der Sargoniden reiner egyptisch stilisirte Blumentypen entgegengetreten sind, als an den älteren Denkmälern aus der Zeit des Assurnasirpal u. s. w. Freilich mochten die Gründe da und dort ver- schiedene gewesen sein.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/179>, abgerufen am 28.03.2024.