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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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3. Melisches.
aber wie wir auf S. 144 gesehen haben, war es bereits in der mykeni-
schen Kunst vorgebildet64). Ob nun der melische Vasenmaler das
Motiv bewusstermaassen als selbständige Halbpalmette65) oder als blosse
accidentelle Zwickelfüllung der S-Spirale aufgefasst hat: daran wird
nicht zu zweifeln sein, dass wir darin ein Zwischenglied zwischen einer
mykenischen und einer reingriechischen Kunstform zu erblicken haben.
Der Zweifel, der in dem letzterwähnten Falle noch übrig bleiben
könnte: ob nämlich die geometrische S-Spirale oder die vegetabilische
Halbpalmette das Hauptmotiv gebildet hat, -- dieser Zweifel fällt hin-
weg bei der Betrachtung des Schultersaums von Fig. 66, in grösserem
Maassstabe reproducirt in Fig. 53. Derselbe zeigt abwechselnd ein-
wärts und auswärts gerichtete Profillotusblüthen, die unter einander
fortlaufend im Schema der intermittirenden Wellenranke ver-
bunden erscheinen, -- einem im Sechsten mykenischen Schachtgrabe
zuerst nachgewiesenen Schema, dessen kunstgeschichtlicher Bedeutung
wir bereits auf S. 123 f. gerecht geworden sind. Auch hinsichtlich des
Verhältnisses dieses melischen Beispiels zu dem erwähnten mykenischen
ist auf die citirte Stelle zurück zu verweisen.

Fassen wir also das Ergebniss unserer Betrachtung der Pflanzen-
ornamentik auf den melischen Vasen zusammen. Das Pflanzenorna-
ment steht hier im Wesentlichen noch auf der Stufe der my-
kenischen Kunst
. Es bewegt sich in der Regel auf der Grenzlinie
zwischen Spiralornament und Rankenornament. Die entscheidende
Schöpfung der mykenischen Kunst, die ausgesprochene Blumenranke,
hat es nicht preisgegeben, aber auch augenscheinlich nicht weiter fort-
gebildet. Die steife vertikale Stellung der Blumenkelche sowie der
Einzelstengel bedeutet eher einen Rückfall in's Egyptische, worauf auch
die Stilisirung der Lotusblüthen und Palmetten hinweist. Die Zwickel-
füllung ist ein so grundlegendes Postulat geworden, wie sie es in der
mykenischen Kunst noch nicht gewesen ist, selbst nicht in der egyp-
tischen, wohl aber, wie es scheint, in der phönikischen. Am wenigsten

64) Am nächsten scheint dem in Rede stehenden Muster von Fig. 66 die
Bordüre der Grabstele bei Schliemann, Mykenä Fig. 24, S. 58 zu stehen.
65) Übrigens lässt sich, wie ich glaube, die bewusste Anwendung der
Halbpalmette seitens der melischen Vasenmaler monumental erweisen. Die
Sphinx auf der melischen Vase Arch. Jahrb. 1887, Taf. XII trägt sie am Haupte
als Bekrönung, also in einer Funktion, in welcher späterhin häufig wohl die
Palmette gebraucht wurde (Arch. Zeit. 1881, Taf. XIII No. 2, 3, 6), aber nicht
die einzelne Spirale.

3. Melisches.
aber wie wir auf S. 144 gesehen haben, war es bereits in der mykeni-
schen Kunst vorgebildet64). Ob nun der melische Vasenmaler das
Motiv bewusstermaassen als selbständige Halbpalmette65) oder als blosse
accidentelle Zwickelfüllung der S-Spirale aufgefasst hat: daran wird
nicht zu zweifeln sein, dass wir darin ein Zwischenglied zwischen einer
mykenischen und einer reingriechischen Kunstform zu erblicken haben.
Der Zweifel, der in dem letzterwähnten Falle noch übrig bleiben
könnte: ob nämlich die geometrische S-Spirale oder die vegetabilische
Halbpalmette das Hauptmotiv gebildet hat, — dieser Zweifel fällt hin-
weg bei der Betrachtung des Schultersaums von Fig. 66, in grösserem
Maassstabe reproducirt in Fig. 53. Derselbe zeigt abwechselnd ein-
wärts und auswärts gerichtete Profillotusblüthen, die unter einander
fortlaufend im Schema der intermittirenden Wellenranke ver-
bunden erscheinen, — einem im Sechsten mykenischen Schachtgrabe
zuerst nachgewiesenen Schema, dessen kunstgeschichtlicher Bedeutung
wir bereits auf S. 123 f. gerecht geworden sind. Auch hinsichtlich des
Verhältnisses dieses melischen Beispiels zu dem erwähnten mykenischen
ist auf die citirte Stelle zurück zu verweisen.

Fassen wir also das Ergebniss unserer Betrachtung der Pflanzen-
ornamentik auf den melischen Vasen zusammen. Das Pflanzenorna-
ment steht hier im Wesentlichen noch auf der Stufe der my-
kenischen Kunst
. Es bewegt sich in der Regel auf der Grenzlinie
zwischen Spiralornament und Rankenornament. Die entscheidende
Schöpfung der mykenischen Kunst, die ausgesprochene Blumenranke,
hat es nicht preisgegeben, aber auch augenscheinlich nicht weiter fort-
gebildet. Die steife vertikale Stellung der Blumenkelche sowie der
Einzelstengel bedeutet eher einen Rückfall in’s Egyptische, worauf auch
die Stilisirung der Lotusblüthen und Palmetten hinweist. Die Zwickel-
füllung ist ein so grundlegendes Postulat geworden, wie sie es in der
mykenischen Kunst noch nicht gewesen ist, selbst nicht in der egyp-
tischen, wohl aber, wie es scheint, in der phönikischen. Am wenigsten

64) Am nächsten scheint dem in Rede stehenden Muster von Fig. 66 die
Bordüre der Grabstele bei Schliemann, Mykenä Fig. 24, S. 58 zu stehen.
65) Übrigens lässt sich, wie ich glaube, die bewusste Anwendung der
Halbpalmette seitens der melischen Vasenmaler monumental erweisen. Die
Sphinx auf der melischen Vase Arch. Jahrb. 1887, Taf. XII trägt sie am Haupte
als Bekrönung, also in einer Funktion, in welcher späterhin häufig wohl die
Palmette gebraucht wurde (Arch. Zeit. 1881, Taf. XIII No. 2, 3, 6), aber nicht
die einzelne Spirale.
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[159/0185] 3. Melisches. aber wie wir auf S. 144 gesehen haben, war es bereits in der mykeni- schen Kunst vorgebildet 64). Ob nun der melische Vasenmaler das Motiv bewusstermaassen als selbständige Halbpalmette 65) oder als blosse accidentelle Zwickelfüllung der S-Spirale aufgefasst hat: daran wird nicht zu zweifeln sein, dass wir darin ein Zwischenglied zwischen einer mykenischen und einer reingriechischen Kunstform zu erblicken haben. Der Zweifel, der in dem letzterwähnten Falle noch übrig bleiben könnte: ob nämlich die geometrische S-Spirale oder die vegetabilische Halbpalmette das Hauptmotiv gebildet hat, — dieser Zweifel fällt hin- weg bei der Betrachtung des Schultersaums von Fig. 66, in grösserem Maassstabe reproducirt in Fig. 53. Derselbe zeigt abwechselnd ein- wärts und auswärts gerichtete Profillotusblüthen, die unter einander fortlaufend im Schema der intermittirenden Wellenranke ver- bunden erscheinen, — einem im Sechsten mykenischen Schachtgrabe zuerst nachgewiesenen Schema, dessen kunstgeschichtlicher Bedeutung wir bereits auf S. 123 f. gerecht geworden sind. Auch hinsichtlich des Verhältnisses dieses melischen Beispiels zu dem erwähnten mykenischen ist auf die citirte Stelle zurück zu verweisen. Fassen wir also das Ergebniss unserer Betrachtung der Pflanzen- ornamentik auf den melischen Vasen zusammen. Das Pflanzenorna- ment steht hier im Wesentlichen noch auf der Stufe der my- kenischen Kunst. Es bewegt sich in der Regel auf der Grenzlinie zwischen Spiralornament und Rankenornament. Die entscheidende Schöpfung der mykenischen Kunst, die ausgesprochene Blumenranke, hat es nicht preisgegeben, aber auch augenscheinlich nicht weiter fort- gebildet. Die steife vertikale Stellung der Blumenkelche sowie der Einzelstengel bedeutet eher einen Rückfall in’s Egyptische, worauf auch die Stilisirung der Lotusblüthen und Palmetten hinweist. Die Zwickel- füllung ist ein so grundlegendes Postulat geworden, wie sie es in der mykenischen Kunst noch nicht gewesen ist, selbst nicht in der egyp- tischen, wohl aber, wie es scheint, in der phönikischen. Am wenigsten 64) Am nächsten scheint dem in Rede stehenden Muster von Fig. 66 die Bordüre der Grabstele bei Schliemann, Mykenä Fig. 24, S. 58 zu stehen. 65) Übrigens lässt sich, wie ich glaube, die bewusste Anwendung der Halbpalmette seitens der melischen Vasenmaler monumental erweisen. Die Sphinx auf der melischen Vase Arch. Jahrb. 1887, Taf. XII trägt sie am Haupte als Bekrönung, also in einer Funktion, in welcher späterhin häufig wohl die Palmette gebraucht wurde (Arch. Zeit. 1881, Taf. XIII No. 2, 3, 6), aber nicht die einzelne Spirale.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/185>, abgerufen am 25.04.2024.