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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
überaus bedeutsames Element in die Dekoration einzuführen, darüber
wird man mindestens verschiedener Ansicht sein können. Aber die
Voraussetzung, auf welche Brückner seine Vermuthung aufbaut, ist
nachweisslich eine unzutreffende: Was Brückner als wuchernden
Akanthus auf den Lekythosmalereien ansieht, ist in der That ein
Akanthus-Ornament, das zur "tektonischen" Hervorhebung des unteren
Säulenansatzes dient44a). Diese Funktion entspricht dem auf S. 65 aus-
führlich erörterten Postulat, und ist völlig identisch mit der Funktion des
Blattkelches am unteren Ansatz der Vasenkörper44b). Es findet sich näm-
lich ausschliesslich an dieser Stelle (Fig. 118), oberhalb der Basis, und am
allerdeutlichsten an dem von Brückner citirten Beispiel bei Benndorf
a. a. O. Taf. 14. Der Akanthus am unteren Säulenschafte ist da voll-
kommen gleichwerthig mit dem krönenden auf den "Akroterien", d. h.
als blosses Ornament, nicht als Darstellung einer Pflanze gemeint.
Damit soll nun keineswegs bestritten werden, dass schon im 5. Jahrh.
der Akanthus um Tempel und Gräber gewuchert hat: aber dass das
Vorhandensein dieses Unkrauts den Athenern so sehr aufgefallen wäre,
dass sie es für würdig erachtet hätten, zur Dekoration ihrer Grabstelen
ausdrücklich herangezogen zu werden, das scheint durch die Lekythos-
Malereien mit Nichten bewiesen. Auch in diesem Falle hat man moderne
Verhältnisse auf Vorgänge aus antiker Zeit zu übertragen versucht:
die Suche nach "neuen" Ornamenten in der natürlichen Flora ist ein
echtes Produkt modernster Kunstempfindung, zum Theil auch moderner
Kunstrathlosigkeit. Das ornamentale Kunstschaffen in der Antike ging
ganz andere, wesentlich künstlerischere Wege, als ein mehr oder
minder geistloses Abschreiben der Natur.

Der entwickelte Akanthus mit fortgeschrittener Blattgliederung
lässt sich also gerade auf den ältesten Denkmälern, die hier in Betracht
kommen, nirgends nachweisen. Was am Akanthus-Ornament Aehnlich-
keit mit der Acanthus spinosa begründet, ist erst im Verlaufe der
weiteren Entwicklung dazu gekommen. Freilich hat sich diese Ent-
wicklung wie die Akroterien der Grabstelen beweisen, verhältnissmässig
rasch vollzogen, und zwar -- was kaum zufällig sein wird -- in der
Plastik und nicht in der Malerei. Diesen Umstand hat auch Brückner

44a) Flache Palmetten der traditionellen Form in der gleichen Funktion
z. B. Mon. ined. VIII. 10. In Stein plastisch bei Perrot und Chipiez III. 79,
Fig. 28.
44b) Akanthus an einer Vase in gleicher Funktion (bezeichnendermaassen
plastisch!) bei Stephani, Compte rendu 1880, Taf. IV. 8.

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
überaus bedeutsames Element in die Dekoration einzuführen, darüber
wird man mindestens verschiedener Ansicht sein können. Aber die
Voraussetzung, auf welche Brückner seine Vermuthung aufbaut, ist
nachweisslich eine unzutreffende: Was Brückner als wuchernden
Akanthus auf den Lekythosmalereien ansieht, ist in der That ein
Akanthus-Ornament, das zur „tektonischen“ Hervorhebung des unteren
Säulenansatzes dient44a). Diese Funktion entspricht dem auf S. 65 aus-
führlich erörterten Postulat, und ist völlig identisch mit der Funktion des
Blattkelches am unteren Ansatz der Vasenkörper44b). Es findet sich näm-
lich ausschliesslich an dieser Stelle (Fig. 118), oberhalb der Basis, und am
allerdeutlichsten an dem von Brückner citirten Beispiel bei Benndorf
a. a. O. Taf. 14. Der Akanthus am unteren Säulenschafte ist da voll-
kommen gleichwerthig mit dem krönenden auf den „Akroterien“, d. h.
als blosses Ornament, nicht als Darstellung einer Pflanze gemeint.
Damit soll nun keineswegs bestritten werden, dass schon im 5. Jahrh.
der Akanthus um Tempel und Gräber gewuchert hat: aber dass das
Vorhandensein dieses Unkrauts den Athenern so sehr aufgefallen wäre,
dass sie es für würdig erachtet hätten, zur Dekoration ihrer Grabstelen
ausdrücklich herangezogen zu werden, das scheint durch die Lekythos-
Malereien mit Nichten bewiesen. Auch in diesem Falle hat man moderne
Verhältnisse auf Vorgänge aus antiker Zeit zu übertragen versucht:
die Suche nach „neuen“ Ornamenten in der natürlichen Flora ist ein
echtes Produkt modernster Kunstempfindung, zum Theil auch moderner
Kunstrathlosigkeit. Das ornamentale Kunstschaffen in der Antike ging
ganz andere, wesentlich künstlerischere Wege, als ein mehr oder
minder geistloses Abschreiben der Natur.

Der entwickelte Akanthus mit fortgeschrittener Blattgliederung
lässt sich also gerade auf den ältesten Denkmälern, die hier in Betracht
kommen, nirgends nachweisen. Was am Akanthus-Ornament Aehnlich-
keit mit der Acanthus spinosa begründet, ist erst im Verlaufe der
weiteren Entwicklung dazu gekommen. Freilich hat sich diese Ent-
wicklung wie die Akroterien der Grabstelen beweisen, verhältnissmässig
rasch vollzogen, und zwar — was kaum zufällig sein wird — in der
Plastik und nicht in der Malerei. Diesen Umstand hat auch Brückner

44a) Flache Palmetten der traditionellen Form in der gleichen Funktion
z. B. Mon. ined. VIII. 10. In Stein plastisch bei Perrot und Chipiez III. 79,
Fig. 28.
44b) Akanthus an einer Vase in gleicher Funktion (bezeichnendermaassen
plastisch!) bei Stephani, Compte rendu 1880, Taf. IV. 8.
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[232/0258] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. überaus bedeutsames Element in die Dekoration einzuführen, darüber wird man mindestens verschiedener Ansicht sein können. Aber die Voraussetzung, auf welche Brückner seine Vermuthung aufbaut, ist nachweisslich eine unzutreffende: Was Brückner als wuchernden Akanthus auf den Lekythosmalereien ansieht, ist in der That ein Akanthus-Ornament, das zur „tektonischen“ Hervorhebung des unteren Säulenansatzes dient 44a). Diese Funktion entspricht dem auf S. 65 aus- führlich erörterten Postulat, und ist völlig identisch mit der Funktion des Blattkelches am unteren Ansatz der Vasenkörper 44b). Es findet sich näm- lich ausschliesslich an dieser Stelle (Fig. 118), oberhalb der Basis, und am allerdeutlichsten an dem von Brückner citirten Beispiel bei Benndorf a. a. O. Taf. 14. Der Akanthus am unteren Säulenschafte ist da voll- kommen gleichwerthig mit dem krönenden auf den „Akroterien“, d. h. als blosses Ornament, nicht als Darstellung einer Pflanze gemeint. Damit soll nun keineswegs bestritten werden, dass schon im 5. Jahrh. der Akanthus um Tempel und Gräber gewuchert hat: aber dass das Vorhandensein dieses Unkrauts den Athenern so sehr aufgefallen wäre, dass sie es für würdig erachtet hätten, zur Dekoration ihrer Grabstelen ausdrücklich herangezogen zu werden, das scheint durch die Lekythos- Malereien mit Nichten bewiesen. Auch in diesem Falle hat man moderne Verhältnisse auf Vorgänge aus antiker Zeit zu übertragen versucht: die Suche nach „neuen“ Ornamenten in der natürlichen Flora ist ein echtes Produkt modernster Kunstempfindung, zum Theil auch moderner Kunstrathlosigkeit. Das ornamentale Kunstschaffen in der Antike ging ganz andere, wesentlich künstlerischere Wege, als ein mehr oder minder geistloses Abschreiben der Natur. Der entwickelte Akanthus mit fortgeschrittener Blattgliederung lässt sich also gerade auf den ältesten Denkmälern, die hier in Betracht kommen, nirgends nachweisen. Was am Akanthus-Ornament Aehnlich- keit mit der Acanthus spinosa begründet, ist erst im Verlaufe der weiteren Entwicklung dazu gekommen. Freilich hat sich diese Ent- wicklung wie die Akroterien der Grabstelen beweisen, verhältnissmässig rasch vollzogen, und zwar — was kaum zufällig sein wird — in der Plastik und nicht in der Malerei. Diesen Umstand hat auch Brückner 44a) Flache Palmetten der traditionellen Form in der gleichen Funktion z. B. Mon. ined. VIII. 10. In Stein plastisch bei Perrot und Chipiez III. 79, Fig. 28. 44b) Akanthus an einer Vase in gleicher Funktion (bezeichnendermaassen plastisch!) bei Stephani, Compte rendu 1880, Taf. IV. 8.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/258>, abgerufen am 29.03.2024.