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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
Webens auf rein zwecklich-materiellem Wege entstanden sein lässt,
nun nicht mehr gelten lassen. Ist aber damit in der That so viel ver-
loren? Für dasjenige, was im Menschen gemäss jenem Lehrsatze den
Gefallen an den rhythmischen Fadenkreuzungen erweckt haben soll, so
dass er dieselben demnächst in anderem Stoffe, ohne durch die Anfor-
derungen des Zweckes dazu genöthigt zu sein, wiederholt hat, dafür
giebt uns jene nunmehr hoffentlich überwundene Theorie doch keine
Erklärung. Die ganze Theorie erscheint hienach bloss als Glied der
materialistischen Weltanschauung, bestimmt die Ableitung einer der
geistigen Lebensäusserungen des Menschen aus stofflich-materiellen
Prämissen, um einen Schritt weiter hinauf zu rücken. Wir wollen diesen
Schritt gar nicht thun, um schliesslich eingestehen zu müssen, dass wir
des Pudels Kern doch nicht zu erkennen vermögen. Wir sagen lieber
gleich, dass jenes Etwas im Menschen, das uns am Formschönen Ge-
fallen finden lässt, und das die Anhänger der technisch-materiellen
Descendenztheorie der Künste ebensowenig wie wir zu definiren im
Stande sind, -- dass jenes Etwas die geometrischen Liniencombinationen
frei und selbständig erschaffen hat, ohne erst ein materielles Zwischen-
glied einzuschieben, das die Sache im letzten Grunde nicht heller
machen kann und höchstens nur zu einem armseligen Scheinerfolg der
materialistischen Weltanschauung führen würde.

Noch drängt es mich, um jedwedes Missverständniss zu vermeiden,
ausdrücklich zu wiederholen, was ich schon mehrfach angedeutet habe:
dass ich Gottfried Semper keineswegs dafür verantwortlich machen
möchte, dass man seine Worte in der erörterten Richtung interpretirt
und weiter entwickelt hat. Semper handelte es sich keineswegs-
darum, eine möglichst materielle Erklärung für die frühesten Kunst-
äusserungen des Menschen zu finden; es war seine Lieblingstheorie
vom Bekleidungswesen als Ursprung aller Baukunst, die ihn dazu ge-
führt hat, der Textilkunst unter allen übrigen Künsten eine Rolle zu-
zuweisen, wie sie ihr besonnenermaassen nicht mehr wird eingeräumt
werden dürfen. Auf dem angedeuteten Wege gelangte Semper dazu,
gewisse textile Begriffe und ästhetische Unterscheidungen wie Band
und Decke, die erst einer vorgeschritteneren, raffinirteren Zeit des
Kunstschaffens angehören können, auf primitive Kunstzustände anzu-
wenden. Von der Überschätzung der Textilkunst in Semper's Stil
werden wir daher gründlich zurückkommen müssen; nichtsdestoweniger
bleibt jede Seite, auf der er sich über dieses Thema äussert, auch für-
derhin noch lesenswerth, wo nicht klassisch.



Der geometrische Stil.
Webens auf rein zwecklich-materiellem Wege entstanden sein lässt,
nun nicht mehr gelten lassen. Ist aber damit in der That so viel ver-
loren? Für dasjenige, was im Menschen gemäss jenem Lehrsatze den
Gefallen an den rhythmischen Fadenkreuzungen erweckt haben soll, so
dass er dieselben demnächst in anderem Stoffe, ohne durch die Anfor-
derungen des Zweckes dazu genöthigt zu sein, wiederholt hat, dafür
giebt uns jene nunmehr hoffentlich überwundene Theorie doch keine
Erklärung. Die ganze Theorie erscheint hienach bloss als Glied der
materialistischen Weltanschauung, bestimmt die Ableitung einer der
geistigen Lebensäusserungen des Menschen aus stofflich-materiellen
Prämissen, um einen Schritt weiter hinauf zu rücken. Wir wollen diesen
Schritt gar nicht thun, um schliesslich eingestehen zu müssen, dass wir
des Pudels Kern doch nicht zu erkennen vermögen. Wir sagen lieber
gleich, dass jenes Etwas im Menschen, das uns am Formschönen Ge-
fallen finden lässt, und das die Anhänger der technisch-materiellen
Descendenztheorie der Künste ebensowenig wie wir zu definiren im
Stande sind, — dass jenes Etwas die geometrischen Liniencombinationen
frei und selbständig erschaffen hat, ohne erst ein materielles Zwischen-
glied einzuschieben, das die Sache im letzten Grunde nicht heller
machen kann und höchstens nur zu einem armseligen Scheinerfolg der
materialistischen Weltanschauung führen würde.

Noch drängt es mich, um jedwedes Missverständniss zu vermeiden,
ausdrücklich zu wiederholen, was ich schon mehrfach angedeutet habe:
dass ich Gottfried Semper keineswegs dafür verantwortlich machen
möchte, dass man seine Worte in der erörterten Richtung interpretirt
und weiter entwickelt hat. Semper handelte es sich keineswegs-
darum, eine möglichst materielle Erklärung für die frühesten Kunst-
äusserungen des Menschen zu finden; es war seine Lieblingstheorie
vom Bekleidungswesen als Ursprung aller Baukunst, die ihn dazu ge-
führt hat, der Textilkunst unter allen übrigen Künsten eine Rolle zu-
zuweisen, wie sie ihr besonnenermaassen nicht mehr wird eingeräumt
werden dürfen. Auf dem angedeuteten Wege gelangte Semper dazu,
gewisse textile Begriffe und ästhetische Unterscheidungen wie Band
und Decke, die erst einer vorgeschritteneren, raffinirteren Zeit des
Kunstschaffens angehören können, auf primitive Kunstzustände anzu-
wenden. Von der Überschätzung der Textilkunst in Semper’s Stil
werden wir daher gründlich zurückkommen müssen; nichtsdestoweniger
bleibt jede Seite, auf der er sich über dieses Thema äussert, auch für-
derhin noch lesenswerth, wo nicht klassisch.



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[32/0058] Der geometrische Stil. Webens auf rein zwecklich-materiellem Wege entstanden sein lässt, nun nicht mehr gelten lassen. Ist aber damit in der That so viel ver- loren? Für dasjenige, was im Menschen gemäss jenem Lehrsatze den Gefallen an den rhythmischen Fadenkreuzungen erweckt haben soll, so dass er dieselben demnächst in anderem Stoffe, ohne durch die Anfor- derungen des Zweckes dazu genöthigt zu sein, wiederholt hat, dafür giebt uns jene nunmehr hoffentlich überwundene Theorie doch keine Erklärung. Die ganze Theorie erscheint hienach bloss als Glied der materialistischen Weltanschauung, bestimmt die Ableitung einer der geistigen Lebensäusserungen des Menschen aus stofflich-materiellen Prämissen, um einen Schritt weiter hinauf zu rücken. Wir wollen diesen Schritt gar nicht thun, um schliesslich eingestehen zu müssen, dass wir des Pudels Kern doch nicht zu erkennen vermögen. Wir sagen lieber gleich, dass jenes Etwas im Menschen, das uns am Formschönen Ge- fallen finden lässt, und das die Anhänger der technisch-materiellen Descendenztheorie der Künste ebensowenig wie wir zu definiren im Stande sind, — dass jenes Etwas die geometrischen Liniencombinationen frei und selbständig erschaffen hat, ohne erst ein materielles Zwischen- glied einzuschieben, das die Sache im letzten Grunde nicht heller machen kann und höchstens nur zu einem armseligen Scheinerfolg der materialistischen Weltanschauung führen würde. Noch drängt es mich, um jedwedes Missverständniss zu vermeiden, ausdrücklich zu wiederholen, was ich schon mehrfach angedeutet habe: dass ich Gottfried Semper keineswegs dafür verantwortlich machen möchte, dass man seine Worte in der erörterten Richtung interpretirt und weiter entwickelt hat. Semper handelte es sich keineswegs- darum, eine möglichst materielle Erklärung für die frühesten Kunst- äusserungen des Menschen zu finden; es war seine Lieblingstheorie vom Bekleidungswesen als Ursprung aller Baukunst, die ihn dazu ge- führt hat, der Textilkunst unter allen übrigen Künsten eine Rolle zu- zuweisen, wie sie ihr besonnenermaassen nicht mehr wird eingeräumt werden dürfen. Auf dem angedeuteten Wege gelangte Semper dazu, gewisse textile Begriffe und ästhetische Unterscheidungen wie Band und Decke, die erst einer vorgeschritteneren, raffinirteren Zeit des Kunstschaffens angehören können, auf primitive Kunstzustände anzu- wenden. Von der Überschätzung der Textilkunst in Semper’s Stil werden wir daher gründlich zurückkommen müssen; nichtsdestoweniger bleibt jede Seite, auf der er sich über dieses Thema äussert, auch für- derhin noch lesenswerth, wo nicht klassisch.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/58>, abgerufen am 29.03.2024.