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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876.

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wird, kann man für jetzt weder entschieden bejahen, noch ver-
neinen. Dem gewöhnlichen Gange menschlicher Dinge gemäß
erscheint es wahrscheinlicher, daß sie erst im Verlaufe der Zeit
und der Entwickelung der Verhältnisse zur Feststellung ihres
Ziels und der Mittel und Wege zu demselben gelangten 1).

Und nun glückte es ihnen in der That, sich zwanzig Jahre
hindurch in der Gunst des Hofes zu erhalten. In dieser Zeit
fiel die Leitung der Familie je länger je mehr dem Unter-
kanzler von Lithauen zu, dem sich der jüngere Bruder von
Jugend auf unterzuordnen gewohnt war. Alle aber hielten
aufs engste zusammen 2). Alle wichtigern Fragen wurden im
Familienrath, von dem selbst die Frauen, die alte Mutter und
die Frau Poniatowski's, nicht ausgeschlossen waren, berathen
und die Entschlüsse gemeinsam gefaßt. Der Kanzler eröffnete
in der Regel die Berathung, indem er die Frage nach allen
ihren Seiten beleuchtete; ihm folgten die zuverlässigen Freunde,
die man zugezogen, dann der Woiwode von Rußland und die
Schwester, zuletzt gab der alte Poniatowski seine Meinung ab.
Keiner erkannte so schnell und richtig, als er, was zu thun sei,
und meistentheils folgten ihm die anderen. Bis in sein sechs-
undsiebzigstes Jahr blieb er körperlich und geistig rüstig; erst
seit 1752 begann er sichtlich zu altern und zog sich seitdem
mit der Frau mehr von den öffentlichen Geschäften zurück. Die

1) Rulhiere I, 192 sq. vertritt die erstere Auffassung. Szujski
IV,
331 meint, daß sie allerdings in der ersten Zeit nach dem Paci-
ficationsreichstag die Reformideen nur vertagt hätten, mit der Zeit aber
diese vollkommen zu Boden gefallen wären, und sie sowohl wie ihre Gegner,
die Potocki, nur rein um das Übergewicht von Einfluß und Macht mit
einander gekämpft hätten.
2) Graf Kayserling, der russische Gesandte in Warschau und
Freund der Familie, soll von ihr gesagt haben, sie sei eine kleine in vor-
trefflicher Ordnung regierte Republik in der großen, aufs schlechteste re-
gierten. Nach dem Bericht eines offenbar sächsischen Agenten aus der
Zeit des Interregnums von 1763--1764, dessen Briefe unter dem Titel
Correspondance sur les affaires politiques du royaume de Pologne (1764
bis 1766) in Büschings Magazin für die neue Geschichte und Geographie,
Thl. XIII, gedruckt sind.
Roepell, Polen im 18. Jahrhundert. 4

wird, kann man für jetzt weder entſchieden bejahen, noch ver-
neinen. Dem gewöhnlichen Gange menſchlicher Dinge gemäß
erſcheint es wahrſcheinlicher, daß ſie erſt im Verlaufe der Zeit
und der Entwickelung der Verhältniſſe zur Feſtſtellung ihres
Ziels und der Mittel und Wege zu demſelben gelangten 1).

Und nun glückte es ihnen in der That, ſich zwanzig Jahre
hindurch in der Gunſt des Hofes zu erhalten. In dieſer Zeit
fiel die Leitung der Familie je länger je mehr dem Unter-
kanzler von Lithauen zu, dem ſich der jüngere Bruder von
Jugend auf unterzuordnen gewohnt war. Alle aber hielten
aufs engſte zuſammen 2). Alle wichtigern Fragen wurden im
Familienrath, von dem ſelbſt die Frauen, die alte Mutter und
die Frau Poniatowski’s, nicht ausgeſchloſſen waren, berathen
und die Entſchlüſſe gemeinſam gefaßt. Der Kanzler eröffnete
in der Regel die Berathung, indem er die Frage nach allen
ihren Seiten beleuchtete; ihm folgten die zuverläſſigen Freunde,
die man zugezogen, dann der Woiwode von Rußland und die
Schweſter, zuletzt gab der alte Poniatowski ſeine Meinung ab.
Keiner erkannte ſo ſchnell und richtig, als er, was zu thun ſei,
und meiſtentheils folgten ihm die anderen. Bis in ſein ſechs-
undſiebzigſtes Jahr blieb er körperlich und geiſtig rüſtig; erſt
ſeit 1752 begann er ſichtlich zu altern und zog ſich ſeitdem
mit der Frau mehr von den öffentlichen Geſchäften zurück. Die

1) Rulhiere I, 192 sq. vertritt die erſtere Auffaſſung. Szujski
IV,
331 meint, daß ſie allerdings in der erſten Zeit nach dem Paci-
ficationsreichstag die Reformideen nur vertagt hätten, mit der Zeit aber
dieſe vollkommen zu Boden gefallen wären, und ſie ſowohl wie ihre Gegner,
die Potocki, nur rein um das Übergewicht von Einfluß und Macht mit
einander gekämpft hätten.
2) Graf Kayſerling, der ruſſiſche Geſandte in Warſchau und
Freund der Familie, ſoll von ihr geſagt haben, ſie ſei eine kleine in vor-
trefflicher Ordnung regierte Republik in der großen, aufs ſchlechteſte re-
gierten. Nach dem Bericht eines offenbar ſächſiſchen Agenten aus der
Zeit des Interregnums von 1763—1764, deſſen Briefe unter dem Titel
Correspondance sur les affaires politiques du royaume de Pologne (1764
bis 1766) in Büſchings Magazin für die neue Geſchichte und Geographie,
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Zitationshilfe: Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/63>, abgerufen am 29.03.2024.