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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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6.

Was uns in Athen und in anderen griechischen Staaten
als "Geschlechter" entgegentritt, sind allermeist Vereinigungen,
für deren Mitglieder ein nachweislicher verwandtschaftlicher
Zusammenhang nicht mehr Bedingung ist. Die meisten solcher
staatlich anerkannten, in sich geschlossenen Geschlechter
schaaren sich um die gemeinsame Verehrung bestimmter Götter,
viele verehren daneben auch einen Heros, nach dem sich, in
solchem Falle, das Geschlecht benennt. Verehrten die Eteo-
butaden zu Athen den Butes, die Alkmeoniden den Alkmeon,
die Buzygen den Buzyges, in Sparta und Argos die Talthy-
biaden den Talthybios u. s. w., so galt ihnen, wie ja auch der
Name des Geschlechts selbst ausdrückt, der gemeinsam ver-
ehrte Heros als Ahn des Geschlechts 1). Und dieser Ahnen-
cult und der von dem, wenn auch nur fictiven, Ahnen her-
geleitete gemeinsame Name unterscheidet die Geschlechter von
den Cultgenossenschaften anderer Art, die seit Kleisthenes mit
den Geschlechtern in den Phratrien in rechtlich gleicher Stellung

man eingesteht, dass sein Grundgedanke -- was das Griechenthum be-
trifft -- nicht über den Stand einer Intuition sich hat erheben lassen,
die richtig und wahr sein könnte, aber unbeweisbar bleibt. Hat es eine
Zeit gegeben, in der griechische Religion nur im Ahnencult bestand, so
tragen doch unsere Blicke nicht in jene dunkle Urzeit lange vor aller
Ueberlieferung, in die, von der mächtig alles beherrschenden Götterreli-
gion gleich der ältesten Urkunde griechischen Geistes, selbst der schmale
und schlüpfrige Pfad der Schlüsse und Combinationen nicht zurückzu-
führen scheint. Ich habe daher in dem vorliegenden Werke, so nahe
dies, seinem Gegenstande nach, zu liegen scheinen könnte, auf die Ver-
suche, alle griechische Religion aus einem anfangs allein vorhandenen
Ahnenculte abzuleiten (wie sie, ausser F. de Coulanges, in England und
Deutschland noch manche Gelehrte gemacht haben) keine Rücksicht
genommen.
1) Die von einem genos Verehrten gelten als dessen Vorfahren, goneis.
Bekker, Anecd. 240, 31: (ta thumata didosin) eis ta goneon (iera) ta gene. --
Physische Verwandtschaft, ursprünglich wohl wirklich vorhanden, dann
nur noch theilweise nachweisbar, der gennetai unter einander bezeichnet
der alte Name omogalaktes für die Angehörigen desselben Geschlechts
(Philochorus fr. 91--94), eigentlich = paides kai paidon paides (Aristot.,
Polit. 1252 b, 18).
6.

Was uns in Athen und in anderen griechischen Staaten
als „Geschlechter“ entgegentritt, sind allermeist Vereinigungen,
für deren Mitglieder ein nachweislicher verwandtschaftlicher
Zusammenhang nicht mehr Bedingung ist. Die meisten solcher
staatlich anerkannten, in sich geschlossenen Geschlechter
schaaren sich um die gemeinsame Verehrung bestimmter Götter,
viele verehren daneben auch einen Heros, nach dem sich, in
solchem Falle, das Geschlecht benennt. Verehrten die Eteo-
butaden zu Athen den Butes, die Alkmeoniden den Alkmeon,
die Buzygen den Buzyges, in Sparta und Argos die Talthy-
biaden den Talthybios u. s. w., so galt ihnen, wie ja auch der
Name des Geschlechts selbst ausdrückt, der gemeinsam ver-
ehrte Heros als Ahn des Geschlechts 1). Und dieser Ahnen-
cult und der von dem, wenn auch nur fictiven, Ahnen her-
geleitete gemeinsame Name unterscheidet die Geschlechter von
den Cultgenossenschaften anderer Art, die seit Kleisthenes mit
den Geschlechtern in den Phratrien in rechtlich gleicher Stellung

man eingesteht, dass sein Grundgedanke — was das Griechenthum be-
trifft — nicht über den Stand einer Intuition sich hat erheben lassen,
die richtig und wahr sein könnte, aber unbeweisbar bleibt. Hat es eine
Zeit gegeben, in der griechische Religion nur im Ahnencult bestand, so
tragen doch unsere Blicke nicht in jene dunkle Urzeit lange vor aller
Ueberlieferung, in die, von der mächtig alles beherrschenden Götterreli-
gion gleich der ältesten Urkunde griechischen Geistes, selbst der schmale
und schlüpfrige Pfad der Schlüsse und Combinationen nicht zurückzu-
führen scheint. Ich habe daher in dem vorliegenden Werke, so nahe
dies, seinem Gegenstande nach, zu liegen scheinen könnte, auf die Ver-
suche, alle griechische Religion aus einem anfangs allein vorhandenen
Ahnenculte abzuleiten (wie sie, ausser F. de Coulanges, in England und
Deutschland noch manche Gelehrte gemacht haben) keine Rücksicht
genommen.
1) Die von einem γένος Verehrten gelten als dessen Vorfahren, γονεῖς.
Bekker, Anecd. 240, 31: (τὰ ϑύματα δίδωσιν) εἰς τὰ γονέων (ἱερὰ) τὰ γένη. —
Physische Verwandtschaft, ursprünglich wohl wirklich vorhanden, dann
nur noch theilweise nachweisbar, der γεννῆται unter einander bezeichnet
der alte Name ὁμογάλακτες für die Angehörigen desselben Geschlechts
(Philochorus fr. 91—94), eigentlich = παῖδες καὶ παίδων παῖδες (Aristot.,
Polit. 1252 b, 18).
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[157/0173] 6. Was uns in Athen und in anderen griechischen Staaten als „Geschlechter“ entgegentritt, sind allermeist Vereinigungen, für deren Mitglieder ein nachweislicher verwandtschaftlicher Zusammenhang nicht mehr Bedingung ist. Die meisten solcher staatlich anerkannten, in sich geschlossenen Geschlechter schaaren sich um die gemeinsame Verehrung bestimmter Götter, viele verehren daneben auch einen Heros, nach dem sich, in solchem Falle, das Geschlecht benennt. Verehrten die Eteo- butaden zu Athen den Butes, die Alkmeoniden den Alkmeon, die Buzygen den Buzyges, in Sparta und Argos die Talthy- biaden den Talthybios u. s. w., so galt ihnen, wie ja auch der Name des Geschlechts selbst ausdrückt, der gemeinsam ver- ehrte Heros als Ahn des Geschlechts 1). Und dieser Ahnen- cult und der von dem, wenn auch nur fictiven, Ahnen her- geleitete gemeinsame Name unterscheidet die Geschlechter von den Cultgenossenschaften anderer Art, die seit Kleisthenes mit den Geschlechtern in den Phratrien in rechtlich gleicher Stellung 2) 1) Die von einem γένος Verehrten gelten als dessen Vorfahren, γονεῖς. Bekker, Anecd. 240, 31: (τὰ ϑύματα δίδωσιν) εἰς τὰ γονέων (ἱερὰ) τὰ γένη. — Physische Verwandtschaft, ursprünglich wohl wirklich vorhanden, dann nur noch theilweise nachweisbar, der γεννῆται unter einander bezeichnet der alte Name ὁμογάλακτες für die Angehörigen desselben Geschlechts (Philochorus fr. 91—94), eigentlich = παῖδες καὶ παίδων παῖδες (Aristot., Polit. 1252 b, 18). 2) man eingesteht, dass sein Grundgedanke — was das Griechenthum be- trifft — nicht über den Stand einer Intuition sich hat erheben lassen, die richtig und wahr sein könnte, aber unbeweisbar bleibt. Hat es eine Zeit gegeben, in der griechische Religion nur im Ahnencult bestand, so tragen doch unsere Blicke nicht in jene dunkle Urzeit lange vor aller Ueberlieferung, in die, von der mächtig alles beherrschenden Götterreli- gion gleich der ältesten Urkunde griechischen Geistes, selbst der schmale und schlüpfrige Pfad der Schlüsse und Combinationen nicht zurückzu- führen scheint. Ich habe daher in dem vorliegenden Werke, so nahe dies, seinem Gegenstande nach, zu liegen scheinen könnte, auf die Ver- suche, alle griechische Religion aus einem anfangs allein vorhandenen Ahnenculte abzuleiten (wie sie, ausser F. de Coulanges, in England und Deutschland noch manche Gelehrte gemacht haben) keine Rücksicht genommen.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/173>, abgerufen am 25.04.2024.