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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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6.

Die beiden Gedichte enthalten nichts, was als Rudiment
alten Seelencultes den Scenen bei der Bestattung des Patroklos
an Mächtigkeit verglichen werden könnte. Gänzlich fehlen
solche Rudimente auch unter den Vorgängen der gewöhnlichen
Todtenbestattung nicht. Man schliesst dem Verstorbenen Augen
und Mund 1), bettet ihn, nachdem er gewaschen und gesalbt,
in ein reines Leintuch gehüllt ist, auf dem Lager 2), und es

1) -- ionti eis Aidao khersi kat ophthalmous eleein sun te stom ereisai.
Odyss. 11, 426. Vgl. Il. 11, 453, Od. 24, 296. Dies zu thun, ist Pflicht
der nächsten Angehörigen, der Mutter, der Gattin. Das Bedürfniss, das
blicklose Auge, den stummen Mund des Gestorbenen zu schliessen, ver-
steht man auch ohne jeden superstitiösen Nebengedanken leicht genug.
Dennoch schimmert ein solcher Nebengedanke durch in einer Rede-
wendung wie akhris otou psukhen mou metros kheres eilan ap osson, epigr.
Kaib. 314, 24. Ward ursprünglich an eine Freimachung der "Seele"
durch diese Vornahmen gedacht? (Sitz der Seele in der kore des Auges
kommt als griechischer Glaube sonst wohl nicht vor, bei anderen Völkern
weist manches auf solche Annahmen hin. Vgl. Grimm, D. Myth.4, p. 898.
903. 988). Sicher eine solche Bedeutung hatte das Auffangen des letzten
Hauches aus dem Munde des Sterbenden. Cic. Verr. 5, § 118 (von
Griechen sprechend), Virgil, Aen. 4, 684 f.: extremus si quis super halitus
errat ore legam
] muliebriter, tanquam possit animam sororis excipere et
in se transferre.
Servius. Die psukhe entweicht ja durch den Mund:
Il. 9, 409 ("Among the Seminoles of Florida, when a woman died in
childbirth, the infant was held over her face to receive her parting spirit,
and thus acquire strength and knowledge for its future use".
Tylor, prim.
cult.
1, 391).
2) Und zwar ana prothuron tetrammenos Il. 19, 212, d. h. die Füsse
nach dem Ausgang zugekehrt. Der Grund dieser Sitte, die auch anders-
wo bestand und besteht, ist schwerlich nur in dem ritus naturae (wie
Plinius n. h. VII, § 46 meint) zu suchen, der auf die Feststellung der
Gebräuche bei den grossen und feierlichen Angelegenheiten des Lebens
wenig Einfluss zu haben pflegt. Mit naiver Deutlichkeit spricht sich der
Sinn dieses Brauches aus in einem Bericht über die Sitten der Pehu-
enchen in Südamerika, bei Pöppig, Reise in Chile, Peru u. s. w. I, p. 393:
auch dort schafft man den Verstorbenen mit den Füssen voran aus der
Hütte, "denn würde der Leichnam in anderer Stellung hinausgetragen,
so könnte sein irrendes Gespenst dahin zurückkehren". Für
den (in homerischer Zeit freilich wohl längst nur zum Symbol gewordenen)
griechischen Brauch muss man die gleiche Furcht vor Rückkehr der
"Seele" als ursprünglich bestimmend voraussetzen. Der Glaube an nicht
6.

Die beiden Gedichte enthalten nichts, was als Rudiment
alten Seelencultes den Scenen bei der Bestattung des Patroklos
an Mächtigkeit verglichen werden könnte. Gänzlich fehlen
solche Rudimente auch unter den Vorgängen der gewöhnlichen
Todtenbestattung nicht. Man schliesst dem Verstorbenen Augen
und Mund 1), bettet ihn, nachdem er gewaschen und gesalbt,
in ein reines Leintuch gehüllt ist, auf dem Lager 2), und es

1) — ἰόντι εἰς Ἀΐδαο χερσὶ κατ̕ ὀφϑαλμοὺς έλέειν σύν τε στόμ̕ ἐρεῖσαι.
Odyss. 11, 426. Vgl. Il. 11, 453, Od. 24, 296. Dies zu thun, ist Pflicht
der nächsten Angehörigen, der Mutter, der Gattin. Das Bedürfniss, das
blicklose Auge, den stummen Mund des Gestorbenen zu schliessen, ver-
steht man auch ohne jeden superstitiösen Nebengedanken leicht genug.
Dennoch schimmert ein solcher Nebengedanke durch in einer Rede-
wendung wie ἄχρις ὅτου ψυχήν μου μητρὸς χέρες εἰλαν ἀπ̕ ὄσσων, epigr.
Kaib. 314, 24. Ward ursprünglich an eine Freimachung der „Seele“
durch diese Vornahmen gedacht? (Sitz der Seele in der κόρη des Auges
kommt als griechischer Glaube sonst wohl nicht vor, bei anderen Völkern
weist manches auf solche Annahmen hin. Vgl. Grimm, D. Myth.4, p. 898.
903. 988). Sicher eine solche Bedeutung hatte das Auffangen des letzten
Hauches aus dem Munde des Sterbenden. Cic. Verr. 5, § 118 (von
Griechen sprechend), Virgil, Aen. 4, 684 f.: extremus si quis super halitus
errat ore legam
] muliebriter, tanquam possit animam sororis excipere et
in se transferre.
Servius. Die ψυχή entweicht ja durch den Mund:
Il. 9, 409 („Among the Seminoles of Florida, when a woman died in
childbirth, the infant was held over her face to receive her parting spirit,
and thus acquire strength and knowledge for its future use“.
Tylor, prim.
cult.
1, 391).
2) Und zwar ἀνἀ πρόϑυρον τετραμμένος Il. 19, 212, d. h. die Füsse
nach dem Ausgang zugekehrt. Der Grund dieser Sitte, die auch anders-
wo bestand und besteht, ist schwerlich nur in dem ritus naturae (wie
Plinius n. h. VII, § 46 meint) zu suchen, der auf die Feststellung der
Gebräuche bei den grossen und feierlichen Angelegenheiten des Lebens
wenig Einfluss zu haben pflegt. Mit naiver Deutlichkeit spricht sich der
Sinn dieses Brauches aus in einem Bericht über die Sitten der Pehu-
enchen in Südamerika, bei Pöppig, Reise in Chile, Peru u. s. w. I, p. 393:
auch dort schafft man den Verstorbenen mit den Füssen voran aus der
Hütte, „denn würde der Leichnam in anderer Stellung hinausgetragen,
so könnte sein irrendes Gespenst dahin zurückkehren“. Für
den (in homerischer Zeit freilich wohl längst nur zum Symbol gewordenen)
griechischen Brauch muss man die gleiche Furcht vor Rückkehr der
„Seele“ als ursprünglich bestimmend voraussetzen. Der Glaube an nicht
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[22/0038] 6. Die beiden Gedichte enthalten nichts, was als Rudiment alten Seelencultes den Scenen bei der Bestattung des Patroklos an Mächtigkeit verglichen werden könnte. Gänzlich fehlen solche Rudimente auch unter den Vorgängen der gewöhnlichen Todtenbestattung nicht. Man schliesst dem Verstorbenen Augen und Mund 1), bettet ihn, nachdem er gewaschen und gesalbt, in ein reines Leintuch gehüllt ist, auf dem Lager 2), und es 1) — ἰόντι εἰς Ἀΐδαο χερσὶ κατ̕ ὀφϑαλμοὺς έλέειν σύν τε στόμ̕ ἐρεῖσαι. Odyss. 11, 426. Vgl. Il. 11, 453, Od. 24, 296. Dies zu thun, ist Pflicht der nächsten Angehörigen, der Mutter, der Gattin. Das Bedürfniss, das blicklose Auge, den stummen Mund des Gestorbenen zu schliessen, ver- steht man auch ohne jeden superstitiösen Nebengedanken leicht genug. Dennoch schimmert ein solcher Nebengedanke durch in einer Rede- wendung wie ἄχρις ὅτου ψυχήν μου μητρὸς χέρες εἰλαν ἀπ̕ ὄσσων, epigr. Kaib. 314, 24. Ward ursprünglich an eine Freimachung der „Seele“ durch diese Vornahmen gedacht? (Sitz der Seele in der κόρη des Auges kommt als griechischer Glaube sonst wohl nicht vor, bei anderen Völkern weist manches auf solche Annahmen hin. Vgl. Grimm, D. Myth.4, p. 898. 903. 988). Sicher eine solche Bedeutung hatte das Auffangen des letzten Hauches aus dem Munde des Sterbenden. Cic. Verr. 5, § 118 (von Griechen sprechend), Virgil, Aen. 4, 684 f.: extremus si quis super halitus errat ore legam] muliebriter, tanquam possit animam sororis excipere et in se transferre. Servius. Die ψυχή entweicht ja durch den Mund: Il. 9, 409 („Among the Seminoles of Florida, when a woman died in childbirth, the infant was held over her face to receive her parting spirit, and thus acquire strength and knowledge for its future use“. Tylor, prim. cult. 1, 391). 2) Und zwar ἀνἀ πρόϑυρον τετραμμένος Il. 19, 212, d. h. die Füsse nach dem Ausgang zugekehrt. Der Grund dieser Sitte, die auch anders- wo bestand und besteht, ist schwerlich nur in dem ritus naturae (wie Plinius n. h. VII, § 46 meint) zu suchen, der auf die Feststellung der Gebräuche bei den grossen und feierlichen Angelegenheiten des Lebens wenig Einfluss zu haben pflegt. Mit naiver Deutlichkeit spricht sich der Sinn dieses Brauches aus in einem Bericht über die Sitten der Pehu- enchen in Südamerika, bei Pöppig, Reise in Chile, Peru u. s. w. I, p. 393: auch dort schafft man den Verstorbenen mit den Füssen voran aus der Hütte, „denn würde der Leichnam in anderer Stellung hinausgetragen, so könnte sein irrendes Gespenst dahin zurückkehren“. Für den (in homerischer Zeit freilich wohl längst nur zum Symbol gewordenen) griechischen Brauch muss man die gleiche Furcht vor Rückkehr der „Seele“ als ursprünglich bestimmend voraussetzen. Der Glaube an nicht

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/38>, abgerufen am 16.04.2024.