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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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gleich den Bewohnern des finstern Hauses selbst, beraubt, und
bedarf noch der Vernichtung ihres leiblichen Doppelgängers,
ehe sie im Hades Ruhe finden kann. Erst durch das Feuer
werden die Todten "besänftigt" (Il. 7, 410); so lange die
Psyche ein "Erdenrest" festhält, hat sie also noch eine Em-
pfindung, ein Bewusstsein von den Vorgängen unter den Le-
benden 1).

Nun endlich ist der Leib vernichtet im Feuer, die Psyche
ist in den Hades gebannt, keine Rückkehr zur Oberwelt ist
ihr gestattet, kein Hauch der Oberwelt dringt zu ihr; sie kann
selbst nicht hinauf mit ihren Gedanken, sie denkt ja nicht mehr,
sie weiss nichts mehr vom Jenseits. Und der Lebende ver-
gisst die so völlig von ihm getrennte (Il. 22, 389). Wie sollte
er durch einen Cult im ferneren Leben eine Verbindung mit
ihr herstellen zu wollen sich vermessen?

7.

Vielleicht giebt eben die Sitte des Verbrennens der Leiche
ein letztes Zeugniss dafür, dass einst die Vorstellung eines
dauernden Haftens der Seele am Reiche der Lebenden, einer
Einwirkung derselben auf die Ueberlebenden unter den Griechen
in Kraft stand. Homer weiss von keiner anderen Art der Be-
stattung als der durch Feuer. Mit feierlichen Begehungen
wird der todte König oder Fürst, mit weniger Umständlichkeit
die Masse der im Kriege Gefallenen verbrannt; begraben wird
Niemand. Man darf sich wohl fragen: woher stammt dieser
Gebrauch, welchen Sinn hatte er für die Griechen des home-
rischen Zeitalters? Nicht von vorne herein die nächstliegende ist
diese Art, die Leiche zu beseitigen; einfacher zu bewerkstelligen,
weniger kostspielig ist doch das Eingraben in die Erde.

1) Aristonicus zu Il. ps 104: e diple oti tas ton ataphon phukhas Omeros
eti sozousas ten phronesin upotithetai. (Etwas zu systematisch Porphyrius in
Stob. Ecl. I p. 422 ff. 425, 25 ff. Wachsm.) -- Wenn Achill den todten
Hektor misshandelt, so setzt er voraus, dass der noch Unbestattete dies
empfinde; lacerari eum et sentire, credo, putat: Cicero Tuscul. I § 105.

gleich den Bewohnern des finstern Hauses selbst, beraubt, und
bedarf noch der Vernichtung ihres leiblichen Doppelgängers,
ehe sie im Hades Ruhe finden kann. Erst durch das Feuer
werden die Todten „besänftigt“ (Il. 7, 410); so lange die
Psyche ein „Erdenrest“ festhält, hat sie also noch eine Em-
pfindung, ein Bewusstsein von den Vorgängen unter den Le-
benden 1).

Nun endlich ist der Leib vernichtet im Feuer, die Psyche
ist in den Hades gebannt, keine Rückkehr zur Oberwelt ist
ihr gestattet, kein Hauch der Oberwelt dringt zu ihr; sie kann
selbst nicht hinauf mit ihren Gedanken, sie denkt ja nicht mehr,
sie weiss nichts mehr vom Jenseits. Und der Lebende ver-
gisst die so völlig von ihm getrennte (Il. 22, 389). Wie sollte
er durch einen Cult im ferneren Leben eine Verbindung mit
ihr herstellen zu wollen sich vermessen?

7.

Vielleicht giebt eben die Sitte des Verbrennens der Leiche
ein letztes Zeugniss dafür, dass einst die Vorstellung eines
dauernden Haftens der Seele am Reiche der Lebenden, einer
Einwirkung derselben auf die Ueberlebenden unter den Griechen
in Kraft stand. Homer weiss von keiner anderen Art der Be-
stattung als der durch Feuer. Mit feierlichen Begehungen
wird der todte König oder Fürst, mit weniger Umständlichkeit
die Masse der im Kriege Gefallenen verbrannt; begraben wird
Niemand. Man darf sich wohl fragen: woher stammt dieser
Gebrauch, welchen Sinn hatte er für die Griechen des home-
rischen Zeitalters? Nicht von vorne herein die nächstliegende ist
diese Art, die Leiche zu beseitigen; einfacher zu bewerkstelligen,
weniger kostspielig ist doch das Eingraben in die Erde.

1) Aristonicus zu Il. ψ 104: ἡ διπλῆ ὅτι τὰς τῶν ἀτάφων φυχἀς Ὅμηρος
ἔτι σωζούσας τὴν φρόνησιν ὑποτίϑεται. (Etwas zu systematisch Porphyrius in
Stob. Ecl. I p. 422 ff. 425, 25 ff. Wachsm.) — Wenn Achill den todten
Hektor misshandelt, so setzt er voraus, dass der noch Unbestattete dies
empfinde; lacerari eum et sentire, credo, putat: Cicero Tuscul. I § 105.
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[26/0042] gleich den Bewohnern des finstern Hauses selbst, beraubt, und bedarf noch der Vernichtung ihres leiblichen Doppelgängers, ehe sie im Hades Ruhe finden kann. Erst durch das Feuer werden die Todten „besänftigt“ (Il. 7, 410); so lange die Psyche ein „Erdenrest“ festhält, hat sie also noch eine Em- pfindung, ein Bewusstsein von den Vorgängen unter den Le- benden 1). Nun endlich ist der Leib vernichtet im Feuer, die Psyche ist in den Hades gebannt, keine Rückkehr zur Oberwelt ist ihr gestattet, kein Hauch der Oberwelt dringt zu ihr; sie kann selbst nicht hinauf mit ihren Gedanken, sie denkt ja nicht mehr, sie weiss nichts mehr vom Jenseits. Und der Lebende ver- gisst die so völlig von ihm getrennte (Il. 22, 389). Wie sollte er durch einen Cult im ferneren Leben eine Verbindung mit ihr herstellen zu wollen sich vermessen? 7. Vielleicht giebt eben die Sitte des Verbrennens der Leiche ein letztes Zeugniss dafür, dass einst die Vorstellung eines dauernden Haftens der Seele am Reiche der Lebenden, einer Einwirkung derselben auf die Ueberlebenden unter den Griechen in Kraft stand. Homer weiss von keiner anderen Art der Be- stattung als der durch Feuer. Mit feierlichen Begehungen wird der todte König oder Fürst, mit weniger Umständlichkeit die Masse der im Kriege Gefallenen verbrannt; begraben wird Niemand. Man darf sich wohl fragen: woher stammt dieser Gebrauch, welchen Sinn hatte er für die Griechen des home- rischen Zeitalters? Nicht von vorne herein die nächstliegende ist diese Art, die Leiche zu beseitigen; einfacher zu bewerkstelligen, weniger kostspielig ist doch das Eingraben in die Erde. 1) Aristonicus zu Il. ψ 104: ἡ διπλῆ ὅτι τὰς τῶν ἀτάφων φυχἀς Ὅμηρος ἔτι σωζούσας τὴν φρόνησιν ὑποτίϑεται. (Etwas zu systematisch Porphyrius in Stob. Ecl. I p. 422 ff. 425, 25 ff. Wachsm.) — Wenn Achill den todten Hektor misshandelt, so setzt er voraus, dass der noch Unbestattete dies empfinde; lacerari eum et sentire, credo, putat: Cicero Tuscul. I § 105.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/42>, abgerufen am 24.04.2024.