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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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starken Accenten fortschreitenden Posaunenklang seiner Rede
ertönt, in der er machtvoll gehobenen Geistes wie ein Pro-
phet das letzte Wort der Weisheit verkündigt. Er weiss wohl,
wie nur Mühe die Erquickung der Ruhe, Hunger die Sätti-
gung, Krankheit die Lust der Gesundheit hervorrufen kann
(fr. 104); das ist das Gesetz der Welt, welches die Gegen-
sätze, einen aus dem anderen erzeugend, innig und nothwendig
verknüpft. Ihm beugt er sich, ihm stimmt er zu; und so wäre
auch ein Beharren der Seele in that- und wandelloser Selig-
keit, selbst wenn es denkbar wäre 1), ihm nicht einmal ein Ziel
seiner Wünsche.

4.

Von Ioniens Küsten war, schon vor der Zeit des Hera-
klit, das Licht philosophischer Betrachtung nach dem Westen
getragen worden durch Xenophanes von Kolophon, den ein
unstätes Leben nach Unteritalien und Sicilien verschlagen
hatte. Seinem feurigen Geiste wurde die abgezogenste Be-
trachtung zu Leben und Erlebniss, der Eine bleibende Grund
des Seins, auf den er unverwandt den Blick richtete, zur All-
gottheit, die ganz Wahrnehmen und Denken ist, ohne Ermü-
dung durch das Denken ihres Geistes alles umschwingt, ohne
Anfang und Ende, unverändert sich gleich bleibt. Was er
von dem Gotte, der ihm mit der Welt eines ist, aussagt, wird
die Grundlage für die ausgebildete Lehre der Philosophen von
Elea, die, im ausgesprochenen Gegensatz zu Heraklit 2), alle
Bewegung, Werden, Veränderung, Eingehn in die Vielheit von
dem Einen, ohne Rest den Raum füllenden Seienden aus-
schliessen, das, aller zeitlichen und räumlichen Entwicklung
enthoben, selbstgenugsam in sich geschlossen verharrt.

1) Erakleitos eremian kai stasin ek ton olon anerei ; esti gar touto
ton nekron. Doxogr. p. 320. stasis und eremia wären gar kein Leben,
auch nicht ein seliges, weltfernes, sondern Merkmale des "Todten", d. h.
aber des nirgends in der Welt Existirenden, des Nichts.
2) Polemik des Parmenides gegen Heraklit: v. 46 ff. Mull. (s. Ber-
nays, Rhein. Mus. 7, 115).

starken Accenten fortschreitenden Posaunenklang seiner Rede
ertönt, in der er machtvoll gehobenen Geistes wie ein Pro-
phet das letzte Wort der Weisheit verkündigt. Er weiss wohl,
wie nur Mühe die Erquickung der Ruhe, Hunger die Sätti-
gung, Krankheit die Lust der Gesundheit hervorrufen kann
(fr. 104); das ist das Gesetz der Welt, welches die Gegen-
sätze, einen aus dem anderen erzeugend, innig und nothwendig
verknüpft. Ihm beugt er sich, ihm stimmt er zu; und so wäre
auch ein Beharren der Seele in that- und wandelloser Selig-
keit, selbst wenn es denkbar wäre 1), ihm nicht einmal ein Ziel
seiner Wünsche.

4.

Von Ioniens Küsten war, schon vor der Zeit des Hera-
klit, das Licht philosophischer Betrachtung nach dem Westen
getragen worden durch Xenophanes von Kolophon, den ein
unstätes Leben nach Unteritalien und Sicilien verschlagen
hatte. Seinem feurigen Geiste wurde die abgezogenste Be-
trachtung zu Leben und Erlebniss, der Eine bleibende Grund
des Seins, auf den er unverwandt den Blick richtete, zur All-
gottheit, die ganz Wahrnehmen und Denken ist, ohne Ermü-
dung durch das Denken ihres Geistes alles umschwingt, ohne
Anfang und Ende, unverändert sich gleich bleibt. Was er
von dem Gotte, der ihm mit der Welt eines ist, aussagt, wird
die Grundlage für die ausgebildete Lehre der Philosophen von
Elea, die, im ausgesprochenen Gegensatz zu Heraklit 2), alle
Bewegung, Werden, Veränderung, Eingehn in die Vielheit von
dem Einen, ohne Rest den Raum füllenden Seienden aus-
schliessen, das, aller zeitlichen und räumlichen Entwicklung
enthoben, selbstgenugsam in sich geschlossen verharrt.

1) Ἡράκλειτος ἠρεμίαν καὶ στάσιν ἐκ τῶν ὅλων ἀνῄρει · ἔστι γὰρ τοῦτο
τῶν νεκρῶν. Doxogr. p. 320. στάσις und ἠρεμία wären gar kein Leben,
auch nicht ein seliges, weltfernes, sondern Merkmale des „Todten“, d. h.
aber des nirgends in der Welt Existirenden, des Nichts.
2) Polemik des Parmenides gegen Heraklit: v. 46 ff. Mull. (s. Ber-
nays, Rhein. Mus. 7, 115).
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[446/0462] starken Accenten fortschreitenden Posaunenklang seiner Rede ertönt, in der er machtvoll gehobenen Geistes wie ein Pro- phet das letzte Wort der Weisheit verkündigt. Er weiss wohl, wie nur Mühe die Erquickung der Ruhe, Hunger die Sätti- gung, Krankheit die Lust der Gesundheit hervorrufen kann (fr. 104); das ist das Gesetz der Welt, welches die Gegen- sätze, einen aus dem anderen erzeugend, innig und nothwendig verknüpft. Ihm beugt er sich, ihm stimmt er zu; und so wäre auch ein Beharren der Seele in that- und wandelloser Selig- keit, selbst wenn es denkbar wäre 1), ihm nicht einmal ein Ziel seiner Wünsche. 4. Von Ioniens Küsten war, schon vor der Zeit des Hera- klit, das Licht philosophischer Betrachtung nach dem Westen getragen worden durch Xenophanes von Kolophon, den ein unstätes Leben nach Unteritalien und Sicilien verschlagen hatte. Seinem feurigen Geiste wurde die abgezogenste Be- trachtung zu Leben und Erlebniss, der Eine bleibende Grund des Seins, auf den er unverwandt den Blick richtete, zur All- gottheit, die ganz Wahrnehmen und Denken ist, ohne Ermü- dung durch das Denken ihres Geistes alles umschwingt, ohne Anfang und Ende, unverändert sich gleich bleibt. Was er von dem Gotte, der ihm mit der Welt eines ist, aussagt, wird die Grundlage für die ausgebildete Lehre der Philosophen von Elea, die, im ausgesprochenen Gegensatz zu Heraklit 2), alle Bewegung, Werden, Veränderung, Eingehn in die Vielheit von dem Einen, ohne Rest den Raum füllenden Seienden aus- schliessen, das, aller zeitlichen und räumlichen Entwicklung enthoben, selbstgenugsam in sich geschlossen verharrt. 1) Ἡράκλειτος ἠρεμίαν καὶ στάσιν ἐκ τῶν ὅλων ἀνῄρει · ἔστι γὰρ τοῦτο τῶν νεκρῶν. Doxogr. p. 320. στάσις und ἠρεμία wären gar kein Leben, auch nicht ein seliges, weltfernes, sondern Merkmale des „Todten“, d. h. aber des nirgends in der Welt Existirenden, des Nichts. 2) Polemik des Parmenides gegen Heraklit: v. 46 ff. Mull. (s. Ber- nays, Rhein. Mus. 7, 115).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/462>, abgerufen am 29.03.2024.