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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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wie sie von Anbeginn gelebt haben, leben nach Plato die
Seelen in endloser Zeit und ausser aller Zeit. Er lehrt eine
persönliche Unsterblichkeit.

4.

Ein weltflüchtiger Sinn spricht aus dieser Philosophie und
ihrer Seelenlehre. Fern jenseits der Welt, in die das Leben
den Menschen gestellt hat, liegt das Reich des wahren Seins,
des Guten und ungetrübt Vollkommenen; in jenes Reich hin-
überzustreben, von der Unruhe und dem Trug der Sinne den
Geist frei zu machen, von den Begierden und Affecten, die
ihn hier unten "annageln" 1) wollen, sich zu lösen, sich abzu-
scheiden 2) von dem Leibe und dem Leibesleben, das ist die
höchste Aufgabe der Seele. Sie ist in diese Welt nur gebannt,
um desto gründlicher von ihr sich abzuwenden. Zu sterben,
innerlich allem Sichtbaren, sinnlich Materiellen abzusterben,

Verschiedenheit (in die sich, schwer begreiflich, das Raumlose, Immate-
rielle ihm zerlegt) vertritt ihm die qualitative Besonderheit, auf die sich
das Selbstbewusstsein dieser Vielen doch allein beziehen könnte. Nach
der Darstellung des Timaeus (cap. 14) sind die vom demiourgos gebildeten
Seelen offenbar alle gleich (daher auch genesis prote tetagmene mia pasin
41 E), erst im soma und in Verbindung mit den sterblichen Seelentheilen
reagiren sie auf die Eindrücke von aussen verschieden (42 B ff.), sind also
verschieden geworden (im Phaedon ist es freilich so schon in der Prae-
existenz: aber da sind auch thumos und epithumia schon in der Praeexistenz
mit der Seele verbunden). Die Einflüsse der niedern Seelentheile und
die trophe paideuseos (Tim. 44 B) macht auch die logistika der Seelen
von einander verschieden, und diese erworbene individuelle Besonderheit,
Früchte der ungleichen paideia kai trophe (das ist aber gerade das Gegen-
theil von der "allgemeinen Natur" des Seelischen, die Teichmüller, Stud.
143 hier bezeichnet meint) nimmt die Seele auch mit an den Ort der
Rechtfertigung, in den Hades: Phaed. 107 D. Wenn sie aber durch rich-
tigste trophe paideuseos ganz kathara, frei von allen Fesseln des Sinn-
lichen und Vergänglichen geworden ist, und zu körperfreiem Dasein in
das aeides entschwindet, so ist freilich auch alles Sonderwesen des Indi-
viduums in ihr erloschen. Gleichwohl soll sie als selbstbewusstes Ich
ewig dauern: denn dass so es Plato meinte, ist nicht zu bezweifeln.
1) Phaedon 83 D.
2) khorizein oti malista apo tou somatos ten psukhen. Phaed. 67 C.
anakhorein 83 A.
37*

wie sie von Anbeginn gelebt haben, leben nach Plato die
Seelen in endloser Zeit und ausser aller Zeit. Er lehrt eine
persönliche Unsterblichkeit.

4.

Ein weltflüchtiger Sinn spricht aus dieser Philosophie und
ihrer Seelenlehre. Fern jenseits der Welt, in die das Leben
den Menschen gestellt hat, liegt das Reich des wahren Seins,
des Guten und ungetrübt Vollkommenen; in jenes Reich hin-
überzustreben, von der Unruhe und dem Trug der Sinne den
Geist frei zu machen, von den Begierden und Affecten, die
ihn hier unten „annageln“ 1) wollen, sich zu lösen, sich abzu-
scheiden 2) von dem Leibe und dem Leibesleben, das ist die
höchste Aufgabe der Seele. Sie ist in diese Welt nur gebannt,
um desto gründlicher von ihr sich abzuwenden. Zu sterben,
innerlich allem Sichtbaren, sinnlich Materiellen abzusterben,

Verschiedenheit (in die sich, schwer begreiflich, das Raumlose, Immate-
rielle ihm zerlegt) vertritt ihm die qualitative Besonderheit, auf die sich
das Selbstbewusstsein dieser Vielen doch allein beziehen könnte. Nach
der Darstellung des Timaeus (cap. 14) sind die vom δημιουργός gebildeten
Seelen offenbar alle gleich (daher auch γένεσις πρώτη τεταγμένη μία πᾶσιν
41 E), erst im σῶμα und in Verbindung mit den sterblichen Seelentheilen
reagiren sie auf die Eindrücke von aussen verschieden (42 B ff.), sind also
verschieden geworden (im Phaedon ist es freilich so schon in der Prae-
existenz: aber da sind auch ϑυμός und ἐπιϑυμία schon in der Praeexistenz
mit der Seele verbunden). Die Einflüsse der niedern Seelentheile und
die τροφὴ παιδεύσεως (Tim. 44 B) macht auch die λογιστικά der Seelen
von einander verschieden, und diese erworbene individuelle Besonderheit,
Früchte der ungleichen παιδεία καὶ τροφή (das ist aber gerade das Gegen-
theil von der „allgemeinen Natur“ des Seelischen, die Teichmüller, Stud.
143 hier bezeichnet meint) nimmt die Seele auch mit an den Ort der
Rechtfertigung, in den Hades: Phaed. 107 D. Wenn sie aber durch rich-
tigste τροφὴ παιδεύσεως ganz καϑαρά, frei von allen Fesseln des Sinn-
lichen und Vergänglichen geworden ist, und zu körperfreiem Dasein in
das ἀειδές entschwindet, so ist freilich auch alles Sonderwesen des Indi-
viduums in ihr erloschen. Gleichwohl soll sie als selbstbewusstes Ich
ewig dauern: denn dass so es Plato meinte, ist nicht zu bezweifeln.
1) Phaedon 83 D.
2) χωρίζειν ὅτι μάλιστα ἀπὸ τοῦ σώματος τὴν ψυχήν. Phaed. 67 C.
ἀναχωρεῖν 83 A.
37*
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[579/0595] wie sie von Anbeginn gelebt haben, leben nach Plato die Seelen in endloser Zeit und ausser aller Zeit. Er lehrt eine persönliche Unsterblichkeit. 4. Ein weltflüchtiger Sinn spricht aus dieser Philosophie und ihrer Seelenlehre. Fern jenseits der Welt, in die das Leben den Menschen gestellt hat, liegt das Reich des wahren Seins, des Guten und ungetrübt Vollkommenen; in jenes Reich hin- überzustreben, von der Unruhe und dem Trug der Sinne den Geist frei zu machen, von den Begierden und Affecten, die ihn hier unten „annageln“ 1) wollen, sich zu lösen, sich abzu- scheiden 2) von dem Leibe und dem Leibesleben, das ist die höchste Aufgabe der Seele. Sie ist in diese Welt nur gebannt, um desto gründlicher von ihr sich abzuwenden. Zu sterben, innerlich allem Sichtbaren, sinnlich Materiellen abzusterben, 3) 1) Phaedon 83 D. 2) χωρίζειν ὅτι μάλιστα ἀπὸ τοῦ σώματος τὴν ψυχήν. Phaed. 67 C. ἀναχωρεῖν 83 A. 3) Verschiedenheit (in die sich, schwer begreiflich, das Raumlose, Immate- rielle ihm zerlegt) vertritt ihm die qualitative Besonderheit, auf die sich das Selbstbewusstsein dieser Vielen doch allein beziehen könnte. Nach der Darstellung des Timaeus (cap. 14) sind die vom δημιουργός gebildeten Seelen offenbar alle gleich (daher auch γένεσις πρώτη τεταγμένη μία πᾶσιν 41 E), erst im σῶμα und in Verbindung mit den sterblichen Seelentheilen reagiren sie auf die Eindrücke von aussen verschieden (42 B ff.), sind also verschieden geworden (im Phaedon ist es freilich so schon in der Prae- existenz: aber da sind auch ϑυμός und ἐπιϑυμία schon in der Praeexistenz mit der Seele verbunden). Die Einflüsse der niedern Seelentheile und die τροφὴ παιδεύσεως (Tim. 44 B) macht auch die λογιστικά der Seelen von einander verschieden, und diese erworbene individuelle Besonderheit, Früchte der ungleichen παιδεία καὶ τροφή (das ist aber gerade das Gegen- theil von der „allgemeinen Natur“ des Seelischen, die Teichmüller, Stud. 143 hier bezeichnet meint) nimmt die Seele auch mit an den Ort der Rechtfertigung, in den Hades: Phaed. 107 D. Wenn sie aber durch rich- tigste τροφὴ παιδεύσεως ganz καϑαρά, frei von allen Fesseln des Sinn- lichen und Vergänglichen geworden ist, und zu körperfreiem Dasein in das ἀειδές entschwindet, so ist freilich auch alles Sonderwesen des Indi- viduums in ihr erloschen. Gleichwohl soll sie als selbstbewusstes Ich ewig dauern: denn dass so es Plato meinte, ist nicht zu bezweifeln. 37*

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/595>, abgerufen am 25.04.2024.