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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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grämt ihn wenig, zu wissen, was denn sein möge, wenn alle
Farben und Töne dieser reich entfalteten Welt ihm entschwun-
den sein werden. Diese Welt ist ihm alles. Die Hoffnung oder
Furcht der Unsterblichkeit hat wenig Macht unter den Gebil-
deten dieser Zeit 1). Die Philosophie, der in irgend einer Ge-
stalt sie alle, inniger oder loser, anhangen, lehrt sie, je nach-
dem, diese Hoffnung ehren oder kühl bei Seite setzen: in
keiner der verbreiteten Secten hat die Lehre von der Ewig-
keit und Unvergänglichkeit der Seele im Mittelpunkt des
Systems eine bestimmende Bedeutung. Die Physik hat in
ihnen überall die Führung; die Theologie steht im Hintergrund,
und kann ihre Verkündigung von göttlicher Herkunft und
ewigem Leben der Seelen nur undeutlich oder gar nicht zu
Gehör bringen.

2.

Am Eingang dieser Zeit, weit in sie hinein das Licht
seines Geistes werfend, steht Aristoteles. In dem was dieser
Lehrer di color' che sanno von der Seele, ihrem Wesen und
ihrem Schicksal zu sagen weiss, werden neben einander zwei
Stimmen vernehmlich. Die Seele, lehrt er, ist in einem leben-
digen, organischen Naturkörper das die Möglichkeit des Lebens
zur Verwirklichung Bringende, die Form in dem Stofflichen

1) Nicht als ob solche Regungen ganz gefehlt hätten. Man erinnert
sich (aus Kallimach. epigr. 25) jenes Kleombrotos aus Ambrakia, den die
Lectüre des Platonischen Phaedon antrieb, sich (wie es zu geschehen
pflegt, mit gründlicher Verkennung der Meinung seines Propheten) in
unmittelbarem Schwunge aus dem Leben in das Jenseits hinüber zu
retten: er gab sich selbst den Tod. Hier bricht einmal eine Stimmung
hervor, der ähnlich, von der aus seiner eigenen, viel späteren Zeit Epiktet
Zeugniss giebt, als einer unter hochgesinnten Jünglingen verbreiteten, ein
Drang, aus der Zerstreuung des Lebendigen im Menschendasein so schnell
wie möglich zu dem Allleben der Gottheit zurückzukehren, durch Ver-
nichtung des Einzellebens (Epictet. diss. 1, 9, 11 ff.). Das waren in jenen
Zeiten doch nur vereinzelte Zuckungen weltflüchtiger Schwärmerei. Der
Hedonismus konnte zu gleichem Schlusse führen, wie an dem Apokarte-
ron des Cyrenaikers Hegesias sich zeigte, des peisithanatos, dessen neben
jenem Kleombrotos Cicero erwähnt, Tuscul. I § 83. 84.

grämt ihn wenig, zu wissen, was denn sein möge, wenn alle
Farben und Töne dieser reich entfalteten Welt ihm entschwun-
den sein werden. Diese Welt ist ihm alles. Die Hoffnung oder
Furcht der Unsterblichkeit hat wenig Macht unter den Gebil-
deten dieser Zeit 1). Die Philosophie, der in irgend einer Ge-
stalt sie alle, inniger oder loser, anhangen, lehrt sie, je nach-
dem, diese Hoffnung ehren oder kühl bei Seite setzen: in
keiner der verbreiteten Secten hat die Lehre von der Ewig-
keit und Unvergänglichkeit der Seele im Mittelpunkt des
Systems eine bestimmende Bedeutung. Die Physik hat in
ihnen überall die Führung; die Theologie steht im Hintergrund,
und kann ihre Verkündigung von göttlicher Herkunft und
ewigem Leben der Seelen nur undeutlich oder gar nicht zu
Gehör bringen.

2.

Am Eingang dieser Zeit, weit in sie hinein das Licht
seines Geistes werfend, steht Aristoteles. In dem was dieser
Lehrer di color’ che sanno von der Seele, ihrem Wesen und
ihrem Schicksal zu sagen weiss, werden neben einander zwei
Stimmen vernehmlich. Die Seele, lehrt er, ist in einem leben-
digen, organischen Naturkörper das die Möglichkeit des Lebens
zur Verwirklichung Bringende, die Form in dem Stofflichen

1) Nicht als ob solche Regungen ganz gefehlt hätten. Man erinnert
sich (aus Kallimach. epigr. 25) jenes Kleombrotos aus Ambrakia, den die
Lectüre des Platonischen Phaedon antrieb, sich (wie es zu geschehen
pflegt, mit gründlicher Verkennung der Meinung seines Propheten) in
unmittelbarem Schwunge aus dem Leben in das Jenseits hinüber zu
retten: er gab sich selbst den Tod. Hier bricht einmal eine Stimmung
hervor, der ähnlich, von der aus seiner eigenen, viel späteren Zeit Epiktet
Zeugniss giebt, als einer unter hochgesinnten Jünglingen verbreiteten, ein
Drang, aus der Zerstreuung des Lebendigen im Menschendasein so schnell
wie möglich zu dem Allleben der Gottheit zurückzukehren, durch Ver-
nichtung des Einzellebens (Epictet. diss. 1, 9, 11 ff.). Das waren in jenen
Zeiten doch nur vereinzelte Zuckungen weltflüchtiger Schwärmerei. Der
Hedonismus konnte zu gleichem Schlusse führen, wie an dem Ἀποκαρτε-
ρῶν des Cyrenaikers Hegesias sich zeigte, des πεισιϑάνατος, dessen neben
jenem Kleombrotos Cicero erwähnt, Tuscul. I § 83. 84.
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[591/0607] grämt ihn wenig, zu wissen, was denn sein möge, wenn alle Farben und Töne dieser reich entfalteten Welt ihm entschwun- den sein werden. Diese Welt ist ihm alles. Die Hoffnung oder Furcht der Unsterblichkeit hat wenig Macht unter den Gebil- deten dieser Zeit 1). Die Philosophie, der in irgend einer Ge- stalt sie alle, inniger oder loser, anhangen, lehrt sie, je nach- dem, diese Hoffnung ehren oder kühl bei Seite setzen: in keiner der verbreiteten Secten hat die Lehre von der Ewig- keit und Unvergänglichkeit der Seele im Mittelpunkt des Systems eine bestimmende Bedeutung. Die Physik hat in ihnen überall die Führung; die Theologie steht im Hintergrund, und kann ihre Verkündigung von göttlicher Herkunft und ewigem Leben der Seelen nur undeutlich oder gar nicht zu Gehör bringen. 2. Am Eingang dieser Zeit, weit in sie hinein das Licht seines Geistes werfend, steht Aristoteles. In dem was dieser Lehrer di color’ che sanno von der Seele, ihrem Wesen und ihrem Schicksal zu sagen weiss, werden neben einander zwei Stimmen vernehmlich. Die Seele, lehrt er, ist in einem leben- digen, organischen Naturkörper das die Möglichkeit des Lebens zur Verwirklichung Bringende, die Form in dem Stofflichen 1) Nicht als ob solche Regungen ganz gefehlt hätten. Man erinnert sich (aus Kallimach. epigr. 25) jenes Kleombrotos aus Ambrakia, den die Lectüre des Platonischen Phaedon antrieb, sich (wie es zu geschehen pflegt, mit gründlicher Verkennung der Meinung seines Propheten) in unmittelbarem Schwunge aus dem Leben in das Jenseits hinüber zu retten: er gab sich selbst den Tod. Hier bricht einmal eine Stimmung hervor, der ähnlich, von der aus seiner eigenen, viel späteren Zeit Epiktet Zeugniss giebt, als einer unter hochgesinnten Jünglingen verbreiteten, ein Drang, aus der Zerstreuung des Lebendigen im Menschendasein so schnell wie möglich zu dem Allleben der Gottheit zurückzukehren, durch Ver- nichtung des Einzellebens (Epictet. diss. 1, 9, 11 ff.). Das waren in jenen Zeiten doch nur vereinzelte Zuckungen weltflüchtiger Schwärmerei. Der Hedonismus konnte zu gleichem Schlusse führen, wie an dem Ἀποκαρτε- ρῶν des Cyrenaikers Hegesias sich zeigte, des πεισιϑάνατος, dessen neben jenem Kleombrotos Cicero erwähnt, Tuscul. I § 83. 84.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/607>, abgerufen am 24.04.2024.