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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Entrückung. Inseln der Seligen.
I.

Die homerische Vorstellung vom Schattenleben der abge-
schiedenen Seelen ist das Werk der Resignation, nicht des
Wunsches. Der Wunsch würde nicht diese Zustände sich als
thatsächlich vorhanden vorgespiegelt haben, in denen es für
den Menschen nach dem Tode weder ein Fortwirken giebt,
noch ein Ausruhen von den Mühen des Lebens, sondern ein
unruhiges, zweckloses Flattern und Schweben, ein Dasein zwar,
aber ohne jeden Inhalt, der es erst zum Leben machen
könnte.

Regte sich gar kein Wunsch nach tröstlicherer Gestaltung
der jenseitigen Welt? verzehrte die starke Lebensenergie jener
Zeiten wirklich ihr Feuer so völlig im Reiche des Zeus, dass
nicht einmal ein Flammenschein der Hoffnung bis in das Haus
des Hades fiel? Wir müssten es glauben -- wenn nicht ein
einziger flüchtiger Ausblick uns von ferne ein seliges Wunsch-
land zeigte, wie es das noch unter dem Banne des homerischen
Weltbildes stehende Griechenthum sich erträumte.

Als Proteus, der in die Zukunft schauende Meergott, dem
Menelaos am Strande Aegyptens von den Bedingungen seiner
Heimkehr in's Vaterland und von den Schicksalen seiner
liebsten Genossen berichtet hat, fügt er, -- so erzählt Mene-
laos selbst im vierten Buche der Odyssee (v. 560 ff.) dem
Telemach -- die weissagenden Worte hinzu:

Nicht ist Dir es beschieden, erhabener Fürst Menelaos,
Im rossweidenden Argos den Tod und das Schicksal zu dulden;
Nein, fernab zur Elysischen Flur, zu den Grenzen der Erde,
Entrückung. Inseln der Seligen.
I.

Die homerische Vorstellung vom Schattenleben der abge-
schiedenen Seelen ist das Werk der Resignation, nicht des
Wunsches. Der Wunsch würde nicht diese Zustände sich als
thatsächlich vorhanden vorgespiegelt haben, in denen es für
den Menschen nach dem Tode weder ein Fortwirken giebt,
noch ein Ausruhen von den Mühen des Lebens, sondern ein
unruhiges, zweckloses Flattern und Schweben, ein Dasein zwar,
aber ohne jeden Inhalt, der es erst zum Leben machen
könnte.

Regte sich gar kein Wunsch nach tröstlicherer Gestaltung
der jenseitigen Welt? verzehrte die starke Lebensenergie jener
Zeiten wirklich ihr Feuer so völlig im Reiche des Zeus, dass
nicht einmal ein Flammenschein der Hoffnung bis in das Haus
des Hades fiel? Wir müssten es glauben — wenn nicht ein
einziger flüchtiger Ausblick uns von ferne ein seliges Wunsch-
land zeigte, wie es das noch unter dem Banne des homerischen
Weltbildes stehende Griechenthum sich erträumte.

Als Proteus, der in die Zukunft schauende Meergott, dem
Menelaos am Strande Aegyptens von den Bedingungen seiner
Heimkehr in’s Vaterland und von den Schicksalen seiner
liebsten Genossen berichtet hat, fügt er, — so erzählt Mene-
laos selbst im vierten Buche der Odyssee (v. 560 ff.) dem
Telemach — die weissagenden Worte hinzu:

Nicht ist Dir es beschieden, erhabener Fürst Menelaos,
Im rossweidenden Argos den Tod und das Schicksal zu dulden;
Nein, fernab zur Elysischen Flur, zu den Grenzen der Erde,
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[[63]/0079] Entrückung. Inseln der Seligen. I. Die homerische Vorstellung vom Schattenleben der abge- schiedenen Seelen ist das Werk der Resignation, nicht des Wunsches. Der Wunsch würde nicht diese Zustände sich als thatsächlich vorhanden vorgespiegelt haben, in denen es für den Menschen nach dem Tode weder ein Fortwirken giebt, noch ein Ausruhen von den Mühen des Lebens, sondern ein unruhiges, zweckloses Flattern und Schweben, ein Dasein zwar, aber ohne jeden Inhalt, der es erst zum Leben machen könnte. Regte sich gar kein Wunsch nach tröstlicherer Gestaltung der jenseitigen Welt? verzehrte die starke Lebensenergie jener Zeiten wirklich ihr Feuer so völlig im Reiche des Zeus, dass nicht einmal ein Flammenschein der Hoffnung bis in das Haus des Hades fiel? Wir müssten es glauben — wenn nicht ein einziger flüchtiger Ausblick uns von ferne ein seliges Wunsch- land zeigte, wie es das noch unter dem Banne des homerischen Weltbildes stehende Griechenthum sich erträumte. Als Proteus, der in die Zukunft schauende Meergott, dem Menelaos am Strande Aegyptens von den Bedingungen seiner Heimkehr in’s Vaterland und von den Schicksalen seiner liebsten Genossen berichtet hat, fügt er, — so erzählt Mene- laos selbst im vierten Buche der Odyssee (v. 560 ff.) dem Telemach — die weissagenden Worte hinzu: Nicht ist Dir es beschieden, erhabener Fürst Menelaos, Im rossweidenden Argos den Tod und das Schicksal zu dulden; Nein, fernab zur Elysischen Flur, zu den Grenzen der Erde,

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. [63]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/79>, abgerufen am 24.04.2024.