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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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eine allgemeinere Begründung, über launenhafte Begünstigung
Einzelner durch einen Gott hinaus, den Entrückungen zukommt,
so könnte es allenfalls der Glaube sein, dass ein naher Zu-
sammenhang mit der Gottheit, d. h. eben der höchste Adel
der Abkunft vor dem Versinken in das allgemeine Reich der
trostlosen Nichtigkeit nach der Trennung der Psyche vom Leibe
schütze. So lässt der Glaube mancher "Naturvölker" den ge-
meinen Mann nach dem Tode, wenn er nicht etwa ganz ver-
nichtet wird, in ein unerfreuliches Todtenreich, die Abkömm-
linge der Götter und Könige, d. h. den Adel, in ein Reich
ewiger Lust eingehen 1). Aber in der Verheissung, die dem
Menelaos zu Theil wird, scheint ein ähnlicher Wahn doch
höchstens ganz dunkel durch. Von einem allgemeinen Ge-
setz, aus dem der einzelne Fall abzuleiten wäre, ist nicht die
Rede. --

4.

Die Einzelnen nun, denen in dem elysischen Lande am
Ende der Erde ein ewiges Leben geschenkt wird, sind von den
Wohnplätzen der Sterblichen viel zu weit abgerückt, als dass
man glauben könnte, dass ihnen irgend eine Einwirkung auf
die Menschenwelt gestattet wäre 2). Sie gleichen den Göttern nur

in Nachahmung einer in der Sage vorher schon festgestellten Ueber-
lieferung, welche Helena entrückt und unsterblich gemacht werden
liess. Von Helenens Tode berichtet keine Ueberlieferung des Alter-
thums, ausser den albernen Erfindungen des Ptolemaeus Chennus (Phot.
bibl
. p. 149 a, 37; 42; 149 b, 1 ff.) und der nicht viel besseren aetiolo-
gischen Sage bei Pausan. 3, 19, 10. Desto häufiger ist von ihrer Ver-
götterung, Leben auf der Insel Leuke oder auch der Insel der Seligen
die Rede. Die Sage mag das dämonischeste der Weiber früh dem ge-
wöhnlichen Menschenloose entrissen haben, Menelaos wird eher ihr hierin
gefolgt sein (wie Isokrates Helen. § 62 geradezu behauptet) als sie ihm.
1) Vgl. Tylor, Primitive Culture 2, 78; J. G. Müller, Gesch. d.
amerikan. Urrelig
. 660 f.; Waitz, Anthropologie V 2, 144; VI 302; 307.
2) Die Erzählung, dass Rhadamanthys einst von den Phäaken nach
Euböa geleitet worden sei, epopsomenos Tituon Gaieion uion (Od. 7, 321 ff.)
dahin zu ergänzen, dass dies geschehen sei als Rh. bereits im Elysium
wohnte, haben wir keinen Grund und kein Recht. Denn dass die Phäaken

eine allgemeinere Begründung, über launenhafte Begünstigung
Einzelner durch einen Gott hinaus, den Entrückungen zukommt,
so könnte es allenfalls der Glaube sein, dass ein naher Zu-
sammenhang mit der Gottheit, d. h. eben der höchste Adel
der Abkunft vor dem Versinken in das allgemeine Reich der
trostlosen Nichtigkeit nach der Trennung der Psyche vom Leibe
schütze. So lässt der Glaube mancher „Naturvölker“ den ge-
meinen Mann nach dem Tode, wenn er nicht etwa ganz ver-
nichtet wird, in ein unerfreuliches Todtenreich, die Abkömm-
linge der Götter und Könige, d. h. den Adel, in ein Reich
ewiger Lust eingehen 1). Aber in der Verheissung, die dem
Menelaos zu Theil wird, scheint ein ähnlicher Wahn doch
höchstens ganz dunkel durch. Von einem allgemeinen Ge-
setz, aus dem der einzelne Fall abzuleiten wäre, ist nicht die
Rede. —

4.

Die Einzelnen nun, denen in dem elysischen Lande am
Ende der Erde ein ewiges Leben geschenkt wird, sind von den
Wohnplätzen der Sterblichen viel zu weit abgerückt, als dass
man glauben könnte, dass ihnen irgend eine Einwirkung auf
die Menschenwelt gestattet wäre 2). Sie gleichen den Göttern nur

in Nachahmung einer in der Sage vorher schon festgestellten Ueber-
lieferung, welche Helena entrückt und unsterblich gemacht werden
liess. Von Helenens Tode berichtet keine Ueberlieferung des Alter-
thums, ausser den albernen Erfindungen des Ptolemaeus Chennus (Phot.
bibl
. p. 149 a, 37; 42; 149 b, 1 ff.) und der nicht viel besseren aetiolo-
gischen Sage bei Pausan. 3, 19, 10. Desto häufiger ist von ihrer Ver-
götterung, Leben auf der Insel Leuke oder auch der Insel der Seligen
die Rede. Die Sage mag das dämonischeste der Weiber früh dem ge-
wöhnlichen Menschenloose entrissen haben, Menelaos wird eher ihr hierin
gefolgt sein (wie Isokrates Helen. § 62 geradezu behauptet) als sie ihm.
1) Vgl. Tylor, Primitive Culture 2, 78; J. G. Müller, Gesch. d.
amerikan. Urrelig
. 660 f.; Waitz, Anthropologie V 2, 144; VI 302; 307.
2) Die Erzählung, dass Rhadamanthys einst von den Phäaken nach
Euböa geleitet worden sei, ἐποψόμενος Τιτυὸν Γαιήϊον υἱόν (Od. 7, 321 ff.)
dahin zu ergänzen, dass dies geschehen sei als Rh. bereits im Elysium
wohnte, haben wir keinen Grund und kein Recht. Denn dass die Phäaken
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[75/0091] eine allgemeinere Begründung, über launenhafte Begünstigung Einzelner durch einen Gott hinaus, den Entrückungen zukommt, so könnte es allenfalls der Glaube sein, dass ein naher Zu- sammenhang mit der Gottheit, d. h. eben der höchste Adel der Abkunft vor dem Versinken in das allgemeine Reich der trostlosen Nichtigkeit nach der Trennung der Psyche vom Leibe schütze. So lässt der Glaube mancher „Naturvölker“ den ge- meinen Mann nach dem Tode, wenn er nicht etwa ganz ver- nichtet wird, in ein unerfreuliches Todtenreich, die Abkömm- linge der Götter und Könige, d. h. den Adel, in ein Reich ewiger Lust eingehen 1). Aber in der Verheissung, die dem Menelaos zu Theil wird, scheint ein ähnlicher Wahn doch höchstens ganz dunkel durch. Von einem allgemeinen Ge- setz, aus dem der einzelne Fall abzuleiten wäre, ist nicht die Rede. — 4. Die Einzelnen nun, denen in dem elysischen Lande am Ende der Erde ein ewiges Leben geschenkt wird, sind von den Wohnplätzen der Sterblichen viel zu weit abgerückt, als dass man glauben könnte, dass ihnen irgend eine Einwirkung auf die Menschenwelt gestattet wäre 2). Sie gleichen den Göttern nur 3) 1) Vgl. Tylor, Primitive Culture 2, 78; J. G. Müller, Gesch. d. amerikan. Urrelig. 660 f.; Waitz, Anthropologie V 2, 144; VI 302; 307. 2) Die Erzählung, dass Rhadamanthys einst von den Phäaken nach Euböa geleitet worden sei, ἐποψόμενος Τιτυὸν Γαιήϊον υἱόν (Od. 7, 321 ff.) dahin zu ergänzen, dass dies geschehen sei als Rh. bereits im Elysium wohnte, haben wir keinen Grund und kein Recht. Denn dass die Phäaken 3) in Nachahmung einer in der Sage vorher schon festgestellten Ueber- lieferung, welche Helena entrückt und unsterblich gemacht werden liess. Von Helenens Tode berichtet keine Ueberlieferung des Alter- thums, ausser den albernen Erfindungen des Ptolemaeus Chennus (Phot. bibl. p. 149 a, 37; 42; 149 b, 1 ff.) und der nicht viel besseren aetiolo- gischen Sage bei Pausan. 3, 19, 10. Desto häufiger ist von ihrer Ver- götterung, Leben auf der Insel Leuke oder auch der Insel der Seligen die Rede. Die Sage mag das dämonischeste der Weiber früh dem ge- wöhnlichen Menschenloose entrissen haben, Menelaos wird eher ihr hierin gefolgt sein (wie Isokrates Helen. § 62 geradezu behauptet) als sie ihm.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/91>, abgerufen am 29.03.2024.