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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Leicht musste der Leib, in Gegensatz zu der nach Freiheit
strebenden Seele gestellt, als das Hindernde, Fesselnde, Ab-
zuthuende erscheinen. Die Vorstellungen der überall drohenden

des Seelenlebens gemacht haben, in denen eine Spaltung des Bewusst-
seins, ein Auseinandertreten des persönlichen Daseins in zwei (oder mehr)
Kreise mit gesonderten Centren eintritt, einander ablösend oder auch
gleichzeitig neben einander zwei Persönlichkeiten, ein doppelter Intellect
und ein doppelter Wille in Einem Menschen sich geltend und bemerklich
machen. Selbst voraussetzungslose psychologische Beobachtung unserer
Zeit weiss solche, bei gewissen neuropathischen Zuständen oft (freiwillig
oder unter dem Zwang experimenteller Veranstaltung) hervortretende Er-
scheinungen nicht anders zu beschreiben denn als eine Verdoppelung
(oder Vervielfältigung) der Person, Bildung eines zweiten Ich, eines zweiten
Bewusstseins nach oder neben dem ersten und normalen Bewusstsein,
dem das Dasein seines Doppelgängers regelmässig verborgen bleibt. (Wohl
am vollständigsten und höchst besonnen stellt diese Dinge dar Pierre
Janet, L'automatisme psychologique, Paris 1889). Wo solche Erschei-
nungen sich einer mit religiös spiritualistischen Voraussetzungen erfüllten
Vorstellungsweise darbieten, werden sie nothwendiger Weise eine diesen
Voraussetzungen entsprechende Auslegung finden. Das Auftauchen eines
intelligenten Willens in einem Menschen, ungewollt und unbemerkt von
der sonst in diesem Menschen waltenden Persönlichkeit, wird als das Ein-
fahren eines fremden Geistes in den Menschen oder das Verdrängen der
eigenen Seele des Menschen durch solchen fremden dämonischen oder
seelischen Gast aufgefasst werden. Und da nichts, bei allen Völkern und
zu allen Zeiten, verbreiteter war als die religiös spiritualistischen Vor-
aussetzungen solcher Erklärungsweise, so haben von jeher (und bis auf
unsere Tage) die selbst von solcher "Verdoppelung der Person" Betrof-
fenen sogut wie ihre (wissenschaftlich nicht geschulte) Umgebung diese
räthselhaften Erscheinungen erklärt durch das was die Griechen ekstasis
nennen oder katekhesthai ek theou. An thatsächlichen Erfahrungen solcher
Art pflegt es nicht zu fehlen, die Willkür liegt nur in der Auslegung der
Erfahrungen. Den Griechen blieb die Pythia das kenntlichste Erfahrungs-
beispiel für die "Besessenheit" eines Menschen durch einen fremden Willen
und Geist, der dem Charakter, dem Wissen und der Art des "Mediums"
im Zustande vollen Bewusstseins (wie es zu geschehen pflegt) wenig ent-
sprach, als ein Fremdes eingedrungen zu sein schien. Die Sibyllen, Ba-
kiden, die Bakkhoi, Seher und Reinigungspriester, Epimenides, Aristeas
und so viele Andere waren weitere Beispiele für den Aufschwung der
Seele ins Göttliche oder Eingehen des Gottes in die Seele. Es konnte
nicht fehlen, dass an solchen Beispielen der Glaube an einen unmittel-
baren Zusammenhang der Seele mit dem Göttlichen, an deren eigene
Gottesnatur, sich aufrichtete, in ihnen sich, mehr als in irgend etwas sonst,
bekräftigt fühlte. Es ist nicht allein in Griechenland so gegangen.

Leicht musste der Leib, in Gegensatz zu der nach Freiheit
strebenden Seele gestellt, als das Hindernde, Fesselnde, Ab-
zuthuende erscheinen. Die Vorstellungen der überall drohenden

des Seelenlebens gemacht haben, in denen eine Spaltung des Bewusst-
seins, ein Auseinandertreten des persönlichen Daseins in zwei (oder mehr)
Kreise mit gesonderten Centren eintritt, einander ablösend oder auch
gleichzeitig neben einander zwei Persönlichkeiten, ein doppelter Intellect
und ein doppelter Wille in Einem Menschen sich geltend und bemerklich
machen. Selbst voraussetzungslose psychologische Beobachtung unserer
Zeit weiss solche, bei gewissen neuropathischen Zuständen oft (freiwillig
oder unter dem Zwang experimenteller Veranstaltung) hervortretende Er-
scheinungen nicht anders zu beschreiben denn als eine Verdoppelung
(oder Vervielfältigung) der Person, Bildung eines zweiten Ich, eines zweiten
Bewusstseins nach oder neben dem ersten und normalen Bewusstsein,
dem das Dasein seines Doppelgängers regelmässig verborgen bleibt. (Wohl
am vollständigsten und höchst besonnen stellt diese Dinge dar Pierre
Janet, L’automatisme psychologique, Paris 1889). Wo solche Erschei-
nungen sich einer mit religiös spiritualistischen Voraussetzungen erfüllten
Vorstellungsweise darbieten, werden sie nothwendiger Weise eine diesen
Voraussetzungen entsprechende Auslegung finden. Das Auftauchen eines
intelligenten Willens in einem Menschen, ungewollt und unbemerkt von
der sonst in diesem Menschen waltenden Persönlichkeit, wird als das Ein-
fahren eines fremden Geistes in den Menschen oder das Verdrängen der
eigenen Seele des Menschen durch solchen fremden dämonischen oder
seelischen Gast aufgefasst werden. Und da nichts, bei allen Völkern und
zu allen Zeiten, verbreiteter war als die religiös spiritualistischen Vor-
aussetzungen solcher Erklärungsweise, so haben von jeher (und bis auf
unsere Tage) die selbst von solcher „Verdoppelung der Person“ Betrof-
fenen sogut wie ihre (wissenschaftlich nicht geschulte) Umgebung diese
räthselhaften Erscheinungen erklärt durch das was die Griechen ἔκστασις
nennen oder κατέχεσϑαι ἐκ ϑεοῦ. An thatsächlichen Erfahrungen solcher
Art pflegt es nicht zu fehlen, die Willkür liegt nur in der Auslegung der
Erfahrungen. Den Griechen blieb die Pythia das kenntlichste Erfahrungs-
beispiel für die „Besessenheit“ eines Menschen durch einen fremden Willen
und Geist, der dem Charakter, dem Wissen und der Art des „Mediums“
im Zustande vollen Bewusstseins (wie es zu geschehen pflegt) wenig ent-
sprach, als ein Fremdes eingedrungen zu sein schien. Die Sibyllen, Ba-
kiden, die Βάκχοι, Seher und Reinigungspriester, Epimenides, Aristeas
und so viele Andere waren weitere Beispiele für den Aufschwung der
Seele ins Göttliche oder Eingehen des Gottes in die Seele. Es konnte
nicht fehlen, dass an solchen Beispielen der Glaube an einen unmittel-
baren Zusammenhang der Seele mit dem Göttlichen, an deren eigene
Gottesnatur, sich aufrichtete, in ihnen sich, mehr als in irgend etwas sonst,
bekräftigt fühlte. Es ist nicht allein in Griechenland so gegangen.
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[392/0408] Leicht musste der Leib, in Gegensatz zu der nach Freiheit strebenden Seele gestellt, als das Hindernde, Fesselnde, Ab- zuthuende erscheinen. Die Vorstellungen der überall drohenden 4) 4) des Seelenlebens gemacht haben, in denen eine Spaltung des Bewusst- seins, ein Auseinandertreten des persönlichen Daseins in zwei (oder mehr) Kreise mit gesonderten Centren eintritt, einander ablösend oder auch gleichzeitig neben einander zwei Persönlichkeiten, ein doppelter Intellect und ein doppelter Wille in Einem Menschen sich geltend und bemerklich machen. Selbst voraussetzungslose psychologische Beobachtung unserer Zeit weiss solche, bei gewissen neuropathischen Zuständen oft (freiwillig oder unter dem Zwang experimenteller Veranstaltung) hervortretende Er- scheinungen nicht anders zu beschreiben denn als eine Verdoppelung (oder Vervielfältigung) der Person, Bildung eines zweiten Ich, eines zweiten Bewusstseins nach oder neben dem ersten und normalen Bewusstsein, dem das Dasein seines Doppelgängers regelmässig verborgen bleibt. (Wohl am vollständigsten und höchst besonnen stellt diese Dinge dar Pierre Janet, L’automatisme psychologique, Paris 1889). Wo solche Erschei- nungen sich einer mit religiös spiritualistischen Voraussetzungen erfüllten Vorstellungsweise darbieten, werden sie nothwendiger Weise eine diesen Voraussetzungen entsprechende Auslegung finden. Das Auftauchen eines intelligenten Willens in einem Menschen, ungewollt und unbemerkt von der sonst in diesem Menschen waltenden Persönlichkeit, wird als das Ein- fahren eines fremden Geistes in den Menschen oder das Verdrängen der eigenen Seele des Menschen durch solchen fremden dämonischen oder seelischen Gast aufgefasst werden. Und da nichts, bei allen Völkern und zu allen Zeiten, verbreiteter war als die religiös spiritualistischen Vor- aussetzungen solcher Erklärungsweise, so haben von jeher (und bis auf unsere Tage) die selbst von solcher „Verdoppelung der Person“ Betrof- fenen sogut wie ihre (wissenschaftlich nicht geschulte) Umgebung diese räthselhaften Erscheinungen erklärt durch das was die Griechen ἔκστασις nennen oder κατέχεσϑαι ἐκ ϑεοῦ. An thatsächlichen Erfahrungen solcher Art pflegt es nicht zu fehlen, die Willkür liegt nur in der Auslegung der Erfahrungen. Den Griechen blieb die Pythia das kenntlichste Erfahrungs- beispiel für die „Besessenheit“ eines Menschen durch einen fremden Willen und Geist, der dem Charakter, dem Wissen und der Art des „Mediums“ im Zustande vollen Bewusstseins (wie es zu geschehen pflegt) wenig ent- sprach, als ein Fremdes eingedrungen zu sein schien. Die Sibyllen, Ba- kiden, die Βάκχοι, Seher und Reinigungspriester, Epimenides, Aristeas und so viele Andere waren weitere Beispiele für den Aufschwung der Seele ins Göttliche oder Eingehen des Gottes in die Seele. Es konnte nicht fehlen, dass an solchen Beispielen der Glaube an einen unmittel- baren Zusammenhang der Seele mit dem Göttlichen, an deren eigene Gottesnatur, sich aufrichtete, in ihnen sich, mehr als in irgend etwas sonst, bekräftigt fühlte. Es ist nicht allein in Griechenland so gegangen.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/408>, abgerufen am 28.03.2024.