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Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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er. Die Alte lebt seit langen Jahren hier, es ist eine verlaufene Zigeunerin, weiß Gott, in welcher Weise sie den Weg zu uns gefunden hat. Sie steht sehr im Verrufe, und doch wollen die Leute ihrer nicht entbehren. Sie nennen sie eine Hexe, die den bösen Blick habe und Unheil unter den Menschen stifte. Aber dabei ist sie der begehrteste Thierarzt in der ganzen Gegend. Sie soll stehlen, gleich Allen ihrer Nation, dennoch scheut man sich, ihr irgend einen Diebstahl bestimmt vorzuwerfen. Ein boshaftes Geschöpf ist sie jedenfalls. Dazu kommt, daß man sie wie den Kosaken für Heiden hält -- unsere Kirchen besuchen sie wenigstens nicht -- die mit dem Teufel in Verbindung stehen. Vor etwa zehn Jahren, als die Russen im Lande waren, verschwand die Alte plötzlich. Nach einiger Zeit kam sie wieder und brachte ihren Gefährten, der damals noch ein junges Blut von achtzehn Jahren war, mit. Es ist ein wirklicher Donischer Kosak. Er war verwundet worden, versprengt irgendwo liegen geblieben, sie curirte ihn, und aus Dankbarkeit oder Indolenz folgte er ihr. Sie hält ihn halb als ihren Sohn, halb als einen Knecht. Merkwürdigerweise stellte sich nun heraus, daß er sich mit unsern Wenden sehr wohl verständigen konnte. Das slavische Idiom seiner Sprache traf hier auf eine ungeahnte Verwandtschaft. Trotzdem hat ihn die Verbindung mit der Alten ebenfalls zu einer unheimlichen Person gemacht. Ich selbst halte ihn für ein gutmüthiges Geschöpf, das

er. Die Alte lebt seit langen Jahren hier, es ist eine verlaufene Zigeunerin, weiß Gott, in welcher Weise sie den Weg zu uns gefunden hat. Sie steht sehr im Verrufe, und doch wollen die Leute ihrer nicht entbehren. Sie nennen sie eine Hexe, die den bösen Blick habe und Unheil unter den Menschen stifte. Aber dabei ist sie der begehrteste Thierarzt in der ganzen Gegend. Sie soll stehlen, gleich Allen ihrer Nation, dennoch scheut man sich, ihr irgend einen Diebstahl bestimmt vorzuwerfen. Ein boshaftes Geschöpf ist sie jedenfalls. Dazu kommt, daß man sie wie den Kosaken für Heiden hält — unsere Kirchen besuchen sie wenigstens nicht — die mit dem Teufel in Verbindung stehen. Vor etwa zehn Jahren, als die Russen im Lande waren, verschwand die Alte plötzlich. Nach einiger Zeit kam sie wieder und brachte ihren Gefährten, der damals noch ein junges Blut von achtzehn Jahren war, mit. Es ist ein wirklicher Donischer Kosak. Er war verwundet worden, versprengt irgendwo liegen geblieben, sie curirte ihn, und aus Dankbarkeit oder Indolenz folgte er ihr. Sie hält ihn halb als ihren Sohn, halb als einen Knecht. Merkwürdigerweise stellte sich nun heraus, daß er sich mit unsern Wenden sehr wohl verständigen konnte. Das slavische Idiom seiner Sprache traf hier auf eine ungeahnte Verwandtschaft. Trotzdem hat ihn die Verbindung mit der Alten ebenfalls zu einer unheimlichen Person gemacht. Ich selbst halte ihn für ein gutmüthiges Geschöpf, das

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[0041] er. Die Alte lebt seit langen Jahren hier, es ist eine verlaufene Zigeunerin, weiß Gott, in welcher Weise sie den Weg zu uns gefunden hat. Sie steht sehr im Verrufe, und doch wollen die Leute ihrer nicht entbehren. Sie nennen sie eine Hexe, die den bösen Blick habe und Unheil unter den Menschen stifte. Aber dabei ist sie der begehrteste Thierarzt in der ganzen Gegend. Sie soll stehlen, gleich Allen ihrer Nation, dennoch scheut man sich, ihr irgend einen Diebstahl bestimmt vorzuwerfen. Ein boshaftes Geschöpf ist sie jedenfalls. Dazu kommt, daß man sie wie den Kosaken für Heiden hält — unsere Kirchen besuchen sie wenigstens nicht — die mit dem Teufel in Verbindung stehen. Vor etwa zehn Jahren, als die Russen im Lande waren, verschwand die Alte plötzlich. Nach einiger Zeit kam sie wieder und brachte ihren Gefährten, der damals noch ein junges Blut von achtzehn Jahren war, mit. Es ist ein wirklicher Donischer Kosak. Er war verwundet worden, versprengt irgendwo liegen geblieben, sie curirte ihn, und aus Dankbarkeit oder Indolenz folgte er ihr. Sie hält ihn halb als ihren Sohn, halb als einen Knecht. Merkwürdigerweise stellte sich nun heraus, daß er sich mit unsern Wenden sehr wohl verständigen konnte. Das slavische Idiom seiner Sprache traf hier auf eine ungeahnte Verwandtschaft. Trotzdem hat ihn die Verbindung mit der Alten ebenfalls zu einer unheimlichen Person gemacht. Ich selbst halte ihn für ein gutmüthiges Geschöpf, das

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T10:15:33Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T10:15:33Z)

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Zitationshilfe: Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roquette_schlangenkoenigin_1910/41>, abgerufen am 16.04.2024.