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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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gibt noch eine, man schwitzt und keucht unter ihrer Last, aber ein tüch¬
tiger Ruck und das Unmögliche ist geleistet. Es gibt kein Bedürfniß
mehr; doch es gibt noch eines, es kommt nur darauf an, durch große
Anstrengung es zu überwinden: einige Ausdauer und man kann Tage,
Wochenlang hungern, dursten, in hohlen Baumstämmen stecken, in Rie¬
senteleskopen durch die Luft schiffen, in einem verschlossenen Koffer,
durch dessen Löcher man die beiden Arme frei bekommen, Spaziergänge
machen. Töpffer ist nicht auf die Weise phantastisch, wie Aristophanes,
Callot und mehre neuere groteske Zeichner; er componirt keine absolut
unmöglichen Gestalten, Froschmenschen, Vogelmenschen u. s. w. Dies
litte schon die moderne Sphäre seiner Stoffe nicht. Aber durch einen
Uebergang, der sich durch einige Motive, die ganz consequent scheinen,
einschleicht, so daß das Unmögliche möglich wird, und wenn man nur
den ersten Zoll über die Linie zugegeben, unmerklich Meilen daraus
entstehen, löst er die Gesetze der Schwere, des Bedürfnisses, der Gren¬
zen menschlicher Kraft und menschlicher Täuschung auf und hat uns,
ehe wir umsehen, in eine eigene Welt, eine Wolkenkukuksburg hinein¬
gezaubert, wo wir eben so sehr in jedem Augenblick an das Allerge¬
wöhnlichste, an alle Unentbehrlichkeiten des Lebens erinnert, als auch
über sie hinweggeschnellt werden. Dadurch nun vollendet sich die Frei¬
heit und Reinheit der Komik, die eigene, ganze und absolute Welt des
Humors. Auch darum verschwindet das Bittere und Boshafte der
Satire, weil wir so ganz in diese zweite, freie Welt der möglich ge¬
wordenen Unmöglichkeiten uns hineingetäuscht finden."


gibt noch eine, man ſchwitzt und keucht unter ihrer Laſt, aber ein tüch¬
tiger Ruck und das Unmögliche iſt geleiſtet. Es gibt kein Bedürfniß
mehr; doch es gibt noch eines, es kommt nur darauf an, durch große
Anſtrengung es zu überwinden: einige Ausdauer und man kann Tage,
Wochenlang hungern, durſten, in hohlen Baumſtämmen ſtecken, in Rie¬
ſenteleskopen durch die Luft ſchiffen, in einem verſchloſſenen Koffer,
durch deſſen Löcher man die beiden Arme frei bekommen, Spaziergänge
machen. Töpffer iſt nicht auf die Weiſe phantaſtiſch, wie Ariſtophanes,
Callot und mehre neuere groteske Zeichner; er componirt keine abſolut
unmöglichen Geſtalten, Froſchmenſchen, Vogelmenſchen u. ſ. w. Dies
litte ſchon die moderne Sphäre ſeiner Stoffe nicht. Aber durch einen
Uebergang, der ſich durch einige Motive, die ganz conſequent ſcheinen,
einſchleicht, ſo daß das Unmögliche möglich wird, und wenn man nur
den erſten Zoll über die Linie zugegeben, unmerklich Meilen daraus
entſtehen, löſt er die Geſetze der Schwere, des Bedürfniſſes, der Gren¬
zen menſchlicher Kraft und menſchlicher Täuſchung auf und hat uns,
ehe wir umſehen, in eine eigene Welt, eine Wolkenkukuksburg hinein¬
gezaubert, wo wir eben ſo ſehr in jedem Augenblick an das Allerge¬
wöhnlichſte, an alle Unentbehrlichkeiten des Lebens erinnert, als auch
über ſie hinweggeſchnellt werden. Dadurch nun vollendet ſich die Frei¬
heit und Reinheit der Komik, die eigene, ganze und abſolute Welt des
Humors. Auch darum verſchwindet das Bittere und Boshafte der
Satire, weil wir ſo ganz in dieſe zweite, freie Welt der möglich ge¬
wordenen Unmöglichkeiten uns hineingetäuſcht finden.“


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[463/0485] gibt noch eine, man ſchwitzt und keucht unter ihrer Laſt, aber ein tüch¬ tiger Ruck und das Unmögliche iſt geleiſtet. Es gibt kein Bedürfniß mehr; doch es gibt noch eines, es kommt nur darauf an, durch große Anſtrengung es zu überwinden: einige Ausdauer und man kann Tage, Wochenlang hungern, durſten, in hohlen Baumſtämmen ſtecken, in Rie¬ ſenteleskopen durch die Luft ſchiffen, in einem verſchloſſenen Koffer, durch deſſen Löcher man die beiden Arme frei bekommen, Spaziergänge machen. Töpffer iſt nicht auf die Weiſe phantaſtiſch, wie Ariſtophanes, Callot und mehre neuere groteske Zeichner; er componirt keine abſolut unmöglichen Geſtalten, Froſchmenſchen, Vogelmenſchen u. ſ. w. Dies litte ſchon die moderne Sphäre ſeiner Stoffe nicht. Aber durch einen Uebergang, der ſich durch einige Motive, die ganz conſequent ſcheinen, einſchleicht, ſo daß das Unmögliche möglich wird, und wenn man nur den erſten Zoll über die Linie zugegeben, unmerklich Meilen daraus entſtehen, löſt er die Geſetze der Schwere, des Bedürfniſſes, der Gren¬ zen menſchlicher Kraft und menſchlicher Täuſchung auf und hat uns, ehe wir umſehen, in eine eigene Welt, eine Wolkenkukuksburg hinein¬ gezaubert, wo wir eben ſo ſehr in jedem Augenblick an das Allerge¬ wöhnlichſte, an alle Unentbehrlichkeiten des Lebens erinnert, als auch über ſie hinweggeſchnellt werden. Dadurch nun vollendet ſich die Frei¬ heit und Reinheit der Komik, die eigene, ganze und abſolute Welt des Humors. Auch darum verſchwindet das Bittere und Boshafte der Satire, weil wir ſo ganz in dieſe zweite, freie Welt der möglich ge¬ wordenen Unmöglichkeiten uns hineingetäuſcht finden.“ Königsberg, gedruckt bei G. D. Böhmer.

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/485>, abgerufen am 18.04.2024.