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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Schriftsteller wird den Begriff auch durch Beispiele erläutern
müssen, zumal auf einem Gebiete, das noch weniger ange¬
bauet ist; erst mit dem Beispiel wird er oft den Zweifel
zerstreuen, welcher seinen abstracten Bestimmungen sich noch
anheften kann. Mit dem Beispiel läuft er jedoch eine neue
Gefahr, weil dasselbe, als ein besonderer Fall, die Allge¬
meinheit des Wahren beschränkt und das Zufällige mit dem
Nothwendigen zu vermischen drohet. Ein Schriftsteller,
sagt daher Schiller mit Recht (36), dem es um wissen¬
schaftliche Strenge zu thun ist, wird sich deswegen der Bei¬
spiele sehr ungern und sehr sparsam bedienen. Dennoch
werden wir in dem Verfolg dieser Abhandlung gegen diese
im Allgemeinen richtige Regel verstoßen müssen, weil wir
es hier mit einem Gegenstande zu thun haben, welcher der
Anschauung angehört und für dessen abstracte Begriffsbe¬
stimmung wir an dem Beispiel gleichsam die Probe seiner
Wahrheit zu machen haben. Die Ungeduld der Menschen,
das Allgemeine auf ein Besonderes anzuwenden, die Unge¬
übtheit der meisten Leser, in rein begrifflichen Bestimmungen
lange zu verweilen, wird den heutigen Schriftsteller, sobald
er für einen größeren Kreis, als den der bloßen Schule,
darstellen will, zu der Concession zwingen, viel in Beispielen
zu denken. Man darf nur an der Geschichte eines Begriffs
sehen, wie sehr sich die traditionelle Bildung an ein Beispiel
anhängt, um die außerordentliche Bedeutung eines solchen zu
erkennen. Lessing war gewiß ein Mann genauer, scharfer
Begriffsbestimmung. Man beobachte aber auf unserm Felde,
wie unzählige Mal ihm nachgesprochen worden, daß wir den
Thersites zwar von Homer gedichtet uns vorstellen, nicht
aber gemalt würden anschauen können; ein Gedanke, auf den
Lessing selber erst durch den Grafen Caylus gerieth, der in

Rosenkranz, Aesthetik des Häßlichen. 12

Schriftſteller wird den Begriff auch durch Beiſpiele erläutern
müſſen, zumal auf einem Gebiete, das noch weniger ange¬
bauet iſt; erſt mit dem Beiſpiel wird er oft den Zweifel
zerſtreuen, welcher ſeinen abſtracten Beſtimmungen ſich noch
anheften kann. Mit dem Beiſpiel läuft er jedoch eine neue
Gefahr, weil daſſelbe, als ein beſonderer Fall, die Allge¬
meinheit des Wahren beſchränkt und das Zufällige mit dem
Nothwendigen zu vermiſchen drohet. Ein Schriftſteller,
ſagt daher Schiller mit Recht (36), dem es um wiſſen¬
ſchaftliche Strenge zu thun iſt, wird ſich deswegen der Bei¬
ſpiele ſehr ungern und ſehr ſparſam bedienen. Dennoch
werden wir in dem Verfolg dieſer Abhandlung gegen dieſe
im Allgemeinen richtige Regel verſtoßen müſſen, weil wir
es hier mit einem Gegenſtande zu thun haben, welcher der
Anſchauung angehört und für deſſen abſtracte Begriffsbe¬
ſtimmung wir an dem Beiſpiel gleichſam die Probe ſeiner
Wahrheit zu machen haben. Die Ungeduld der Menſchen,
das Allgemeine auf ein Beſonderes anzuwenden, die Unge¬
übtheit der meiſten Leſer, in rein begrifflichen Beſtimmungen
lange zu verweilen, wird den heutigen Schriftſteller, ſobald
er für einen größeren Kreis, als den der bloßen Schule,
darſtellen will, zu der Conceſſion zwingen, viel in Beiſpielen
zu denken. Man darf nur an der Geſchichte eines Begriffs
ſehen, wie ſehr ſich die traditionelle Bildung an ein Beiſpiel
anhängt, um die außerordentliche Bedeutung eines ſolchen zu
erkennen. Leſſing war gewiß ein Mann genauer, ſcharfer
Begriffsbeſtimmung. Man beobachte aber auf unſerm Felde,
wie unzählige Mal ihm nachgeſprochen worden, daß wir den
Therſites zwar von Homer gedichtet uns vorſtellen, nicht
aber gemalt würden anſchauen können; ein Gedanke, auf den
Leſſing ſelber erſt durch den Grafen Caylus gerieth, der in

Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 12
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[177/0199] Schriftſteller wird den Begriff auch durch Beiſpiele erläutern müſſen, zumal auf einem Gebiete, das noch weniger ange¬ bauet iſt; erſt mit dem Beiſpiel wird er oft den Zweifel zerſtreuen, welcher ſeinen abſtracten Beſtimmungen ſich noch anheften kann. Mit dem Beiſpiel läuft er jedoch eine neue Gefahr, weil daſſelbe, als ein beſonderer Fall, die Allge¬ meinheit des Wahren beſchränkt und das Zufällige mit dem Nothwendigen zu vermiſchen drohet. Ein Schriftſteller, ſagt daher Schiller mit Recht (36), dem es um wiſſen¬ ſchaftliche Strenge zu thun iſt, wird ſich deswegen der Bei¬ ſpiele ſehr ungern und ſehr ſparſam bedienen. Dennoch werden wir in dem Verfolg dieſer Abhandlung gegen dieſe im Allgemeinen richtige Regel verſtoßen müſſen, weil wir es hier mit einem Gegenſtande zu thun haben, welcher der Anſchauung angehört und für deſſen abſtracte Begriffsbe¬ ſtimmung wir an dem Beiſpiel gleichſam die Probe ſeiner Wahrheit zu machen haben. Die Ungeduld der Menſchen, das Allgemeine auf ein Beſonderes anzuwenden, die Unge¬ übtheit der meiſten Leſer, in rein begrifflichen Beſtimmungen lange zu verweilen, wird den heutigen Schriftſteller, ſobald er für einen größeren Kreis, als den der bloßen Schule, darſtellen will, zu der Conceſſion zwingen, viel in Beiſpielen zu denken. Man darf nur an der Geſchichte eines Begriffs ſehen, wie ſehr ſich die traditionelle Bildung an ein Beiſpiel anhängt, um die außerordentliche Bedeutung eines ſolchen zu erkennen. Leſſing war gewiß ein Mann genauer, ſcharfer Begriffsbeſtimmung. Man beobachte aber auf unſerm Felde, wie unzählige Mal ihm nachgeſprochen worden, daß wir den Therſites zwar von Homer gedichtet uns vorſtellen, nicht aber gemalt würden anſchauen können; ein Gedanke, auf den Leſſing ſelber erſt durch den Grafen Caylus gerieth, der in Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 12

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/199>, abgerufen am 19.04.2024.