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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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mehr das objective Werk der Natur, das wir, bevor wir
noch auf dem Gipfel angelangt waren, schon erwarteten.
Oder wenn der Niagarafall mit zum Himmel dampfendem
Gischt über die bebende Felsenmauer meilenbreit hindonnert,
so ist er an sich erhaben, mag ein Mensch Zeuge dieses
Schauspiels sein oder nicht. -- Was aber das Sinnliche an¬
betrifft, so ist dasselbe nicht im Geringsten ein Gegengrund
gegen das Erhabene. Weder die Natur, noch die Kunst,
können vom Sinnlichen abstrahiren. Kant hat auch nur
von der Macht des Gemüths gesprochen, die alles Sinnliche
übersteigt; Spätere haben erst das Sinnliche ganz aus dem
Erhabenen eliminirt und dasselbe ausschließend in's Moralische
und Religiöse verlegt. Das Erhabene hat das Endliche,
Sinnliche an sich, indem es zugleich über dasselbe hinaus¬
geht. Nicht wir nur denken das Unendliche, sondern die
Unendlichkeit realisirt sich und diese Anschauung ist es, die
uns von den Schranken des Endlichen entlastet. Die Er¬
hebung unseres Gemüthes wiederholt nur, was objectiv vor¬
handen ist. Wenn wir vom eisgekrönten Aetna aus Himmel,
Erde und Meer in so großen Verhältnissen anschauen, daß,
was sonst schon die Schranke des Horizontes ausmacht, tief
unter uns liegt, so befreiet uns dieser makrokosmische Blick
von aller subjectiven Engheit und erhebt uns zu den im
Weltall waltenden Göttern, wie Hölderlin im Tod des
Empedokles
so herrlich geschildert hat.

Man würde sich für den Begriff des Erhabenen auch
dadurch manches Mißverständniß erspart haben, wenn man
seine Unterschiede beachtet und nicht einen derselben mit dem
allgemeinen Begriff oft identificirt hätte, denn das Erhabene
ist einmal diejenige Erscheinung des Schönen, welche die
Negation der Freiheit durch Aufhebung ihrer Schranken, sei

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mehr das objective Werk der Natur, das wir, bevor wir
noch auf dem Gipfel angelangt waren, ſchon erwarteten.
Oder wenn der Niagarafall mit zum Himmel dampfendem
Giſcht über die bebende Felſenmauer meilenbreit hindonnert,
ſo iſt er an ſich erhaben, mag ein Menſch Zeuge dieſes
Schauſpiels ſein oder nicht. — Was aber das Sinnliche an¬
betrifft, ſo iſt daſſelbe nicht im Geringſten ein Gegengrund
gegen das Erhabene. Weder die Natur, noch die Kunſt,
können vom Sinnlichen abſtrahiren. Kant hat auch nur
von der Macht des Gemüths geſprochen, die alles Sinnliche
überſteigt; Spätere haben erſt das Sinnliche ganz aus dem
Erhabenen eliminirt und daſſelbe ausſchließend in's Moraliſche
und Religiöſe verlegt. Das Erhabene hat das Endliche,
Sinnliche an ſich, indem es zugleich über daſſelbe hinaus¬
geht. Nicht wir nur denken das Unendliche, ſondern die
Unendlichkeit realiſirt ſich und dieſe Anſchauung iſt es, die
uns von den Schranken des Endlichen entlaſtet. Die Er¬
hebung unſeres Gemüthes wiederholt nur, was objectiv vor¬
handen iſt. Wenn wir vom eisgekrönten Aetna aus Himmel,
Erde und Meer in ſo großen Verhältniſſen anſchauen, daß,
was ſonſt ſchon die Schranke des Horizontes ausmacht, tief
unter uns liegt, ſo befreiet uns dieſer makrokosmiſche Blick
von aller ſubjectiven Engheit und erhebt uns zu den im
Weltall waltenden Göttern, wie Hölderlin im Tod des
Empedokles
ſo herrlich geſchildert hat.

Man würde ſich für den Begriff des Erhabenen auch
dadurch manches Mißverſtändniß erſpart haben, wenn man
ſeine Unterſchiede beachtet und nicht einen derſelben mit dem
allgemeinen Begriff oft identificirt hätte, denn das Erhabene
iſt einmal diejenige Erſcheinung des Schönen, welche die
Negation der Freiheit durch Aufhebung ihrer Schranken, ſei

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[179/0201] mehr das objective Werk der Natur, das wir, bevor wir noch auf dem Gipfel angelangt waren, ſchon erwarteten. Oder wenn der Niagarafall mit zum Himmel dampfendem Giſcht über die bebende Felſenmauer meilenbreit hindonnert, ſo iſt er an ſich erhaben, mag ein Menſch Zeuge dieſes Schauſpiels ſein oder nicht. — Was aber das Sinnliche an¬ betrifft, ſo iſt daſſelbe nicht im Geringſten ein Gegengrund gegen das Erhabene. Weder die Natur, noch die Kunſt, können vom Sinnlichen abſtrahiren. Kant hat auch nur von der Macht des Gemüths geſprochen, die alles Sinnliche überſteigt; Spätere haben erſt das Sinnliche ganz aus dem Erhabenen eliminirt und daſſelbe ausſchließend in's Moraliſche und Religiöſe verlegt. Das Erhabene hat das Endliche, Sinnliche an ſich, indem es zugleich über daſſelbe hinaus¬ geht. Nicht wir nur denken das Unendliche, ſondern die Unendlichkeit realiſirt ſich und dieſe Anſchauung iſt es, die uns von den Schranken des Endlichen entlaſtet. Die Er¬ hebung unſeres Gemüthes wiederholt nur, was objectiv vor¬ handen iſt. Wenn wir vom eisgekrönten Aetna aus Himmel, Erde und Meer in ſo großen Verhältniſſen anſchauen, daß, was ſonſt ſchon die Schranke des Horizontes ausmacht, tief unter uns liegt, ſo befreiet uns dieſer makrokosmiſche Blick von aller ſubjectiven Engheit und erhebt uns zu den im Weltall waltenden Göttern, wie Hölderlin im Tod des Empedokles ſo herrlich geſchildert hat. Man würde ſich für den Begriff des Erhabenen auch dadurch manches Mißverſtändniß erſpart haben, wenn man ſeine Unterſchiede beachtet und nicht einen derſelben mit dem allgemeinen Begriff oft identificirt hätte, denn das Erhabene iſt einmal diejenige Erſcheinung des Schönen, welche die Negation der Freiheit durch Aufhebung ihrer Schranken, ſei 12 *

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/201>, abgerufen am 19.04.2024.