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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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mit dem so leicht zu sprechenden oder zu schreibenden Wort
als dem Medium der Darstellung den Gipfel. Um der Idee
wahrhaft zu genügen, ist die Poesie die schwerste Kunst, weil
sie am wenigsten das empirisch Gegebene direct nachahmen
kann, vielmehr es aus der Tiefe des Geistes ideell verarbeiten,
verdichten muß. Ist sie aber einmal da, hat sie erst eine
literarische Existenz gewonnen, hat sie sich erst eine poetische
Technik erschaffen, so ist auch keine Kunst so leicht zu mi߬
brauchen, als die Poesie, weil dann, nach dem bekannten
Urtheil eines großen Dichters, die Sprache selber schon für
uns dichtet und denkt. Im Epos, in der Lyrik, Dramatik
und Didaktik erzeugt sich für den Inhalt wie für die Form
ein oberflächliches Modificiren desselben Materials, dessen
Gestaltung nur scheinbar sich verändert. Es gehört dann schon
ein gebildeterer und in sich durch vielseitigere Erfahrung be¬
reicherter, durch tiefere Erkenntniß beruhigter Geschmack dazu,
das Häßliche zu entdecken. Hiezu kommt noch das Interesse,
welches an der Poesie von Seiten der Tendenz genommen
werden kann, so daß nicht der poetische Werth, sondern das
revolutionaire oder conservative, das rationalistische oder
pietistische Pathos das Schicksal eines Gedichts entscheidet,
wie unsere Epoche hiezu so viele Beläge liefert. Vor den
Parteiidealen ist bei uns das göttliche Ideal oft verdüstert, ja
verschwunden. In der Poesie kann am leichtesten und un¬
merklichsten gesündigt werden und in ihr wird gewiß die
größte Masse des Häßlichen producirt.


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mit dem ſo leicht zu ſprechenden oder zu ſchreibenden Wort
als dem Medium der Darſtellung den Gipfel. Um der Idee
wahrhaft zu genügen, iſt die Poeſie die ſchwerſte Kunſt, weil
ſie am wenigſten das empiriſch Gegebene direct nachahmen
kann, vielmehr es aus der Tiefe des Geiſtes ideell verarbeiten,
verdichten muß. Iſt ſie aber einmal da, hat ſie erſt eine
literariſche Exiſtenz gewonnen, hat ſie ſich erſt eine poetiſche
Technik erſchaffen, ſo iſt auch keine Kunſt ſo leicht zu mi߬
brauchen, als die Poeſie, weil dann, nach dem bekannten
Urtheil eines großen Dichters, die Sprache ſelber ſchon für
uns dichtet und denkt. Im Epos, in der Lyrik, Dramatik
und Didaktik erzeugt ſich für den Inhalt wie für die Form
ein oberflächliches Modificiren deſſelben Materials, deſſen
Geſtaltung nur ſcheinbar ſich verändert. Es gehört dann ſchon
ein gebildeterer und in ſich durch vielſeitigere Erfahrung be¬
reicherter, durch tiefere Erkenntniß beruhigter Geſchmack dazu,
das Häßliche zu entdecken. Hiezu kommt noch das Intereſſe,
welches an der Poeſie von Seiten der Tendenz genommen
werden kann, ſo daß nicht der poetiſche Werth, ſondern das
revolutionaire oder conſervative, das rationaliſtiſche oder
pietiſtiſche Pathos das Schickſal eines Gedichts entſcheidet,
wie unſere Epoche hiezu ſo viele Beläge liefert. Vor den
Parteiidealen iſt bei uns das göttliche Ideal oft verdüſtert, ja
verſchwunden. In der Poeſie kann am leichteſten und un¬
merklichſten geſündigt werden und in ihr wird gewiß die
größte Maſſe des Häßlichen producirt.


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[51/0073] mit dem ſo leicht zu ſprechenden oder zu ſchreibenden Wort als dem Medium der Darſtellung den Gipfel. Um der Idee wahrhaft zu genügen, iſt die Poeſie die ſchwerſte Kunſt, weil ſie am wenigſten das empiriſch Gegebene direct nachahmen kann, vielmehr es aus der Tiefe des Geiſtes ideell verarbeiten, verdichten muß. Iſt ſie aber einmal da, hat ſie erſt eine literariſche Exiſtenz gewonnen, hat ſie ſich erſt eine poetiſche Technik erſchaffen, ſo iſt auch keine Kunſt ſo leicht zu mi߬ brauchen, als die Poeſie, weil dann, nach dem bekannten Urtheil eines großen Dichters, die Sprache ſelber ſchon für uns dichtet und denkt. Im Epos, in der Lyrik, Dramatik und Didaktik erzeugt ſich für den Inhalt wie für die Form ein oberflächliches Modificiren deſſelben Materials, deſſen Geſtaltung nur ſcheinbar ſich verändert. Es gehört dann ſchon ein gebildeterer und in ſich durch vielſeitigere Erfahrung be¬ reicherter, durch tiefere Erkenntniß beruhigter Geſchmack dazu, das Häßliche zu entdecken. Hiezu kommt noch das Intereſſe, welches an der Poeſie von Seiten der Tendenz genommen werden kann, ſo daß nicht der poetiſche Werth, ſondern das revolutionaire oder conſervative, das rationaliſtiſche oder pietiſtiſche Pathos das Schickſal eines Gedichts entſcheidet, wie unſere Epoche hiezu ſo viele Beläge liefert. Vor den Parteiidealen iſt bei uns das göttliche Ideal oft verdüſtert, ja verſchwunden. In der Poeſie kann am leichteſten und un¬ merklichſten geſündigt werden und in ihr wird gewiß die größte Maſſe des Häßlichen producirt. 4 *

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/73>, abgerufen am 23.04.2024.