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Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881.

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A. Begründung.

"Der Streit ist der Vater der Dinge", sagt Heraklit, und
die Folgerungen, welche Empedocles, Darwin und Wal-
lace
aus diesem Principe abgeleitet haben, sind bekannt und
im vorigen Capitel besprochen. Wie dort der Kampf der Gan-
zen zum Uebrigbleiben des Besten führte, so kann er es wohl
auch unter den Theilen gethan haben und noch thun, wenn
Gelegenheit zu einer derartigen Wechselwirkung der Theile im
Innern gegeben ist. Kann der Staat nicht bestehen, wenn die
Staatsbürger allenthalben unter einander wetteifern und blos
die Tüchtigsten zu allgemeinerem Einfluss auf das Geschehen
gelangen? Ist nun aber im Organismus Gelegenheit zu einer
derartigen Wechselwirkung der Theile gegeben? Das ist die
Frage, von welcher in erster Instanz alles abhängen muss.

Zunächst ist zur Beantwortung derselben zu erwähnen, dass
selbst in den höchsten Organismen die Centralisation zum Gan-
zen gar nicht eine so vollkommene, wie man sie sich noch oft
vorstellt, nicht derartig ist, dass alle Theile nur in dem Orga-
nismus, welchem sie angehören, und nur an der Stelle ihres
normalen Sitzes bestehen könnten und somit, vollkommen in
Abhängigkeit, nur als Theile des Ganzen in fest normirter
Weise zu leben vermöchten.

Virchow hat schon vor fast dreissig Jahren1) auf die Selbst-
ständigkeit der Zellen hingewiesen, und die Transplantations-
fähigkeit von Zellen des einen Organismus auf den anderen
und von einer Stelle desselben Organismus auf eine andere
dafür angeführt. Gegenwärtig sind wir im Stande, Theile der
Oberhaut (Epidermis), ganze Stücke der vollständigen Haut mit
Drüsen und Haaren, ferner der Knochenhaut, der Hornhaut des
Auges und einzelne Haare von einem Individuum vollkommen
losgelöst auf das andere zu übertragen, so dass sie eine Zeit

1) Virchow's Archiv f. patholog. Anat. u. Physiol. Bd. IV. 1852.
p. 378.
Roux, Kampf der Theile. 5
A. Begründung.

»Der Streit ist der Vater der Dinge«, sagt Heraklit, und
die Folgerungen, welche Empedocles, Darwin und Wal-
lace
aus diesem Principe abgeleitet haben, sind bekannt und
im vorigen Capitel besprochen. Wie dort der Kampf der Gan-
zen zum Uebrigbleiben des Besten führte, so kann er es wohl
auch unter den Theilen gethan haben und noch thun, wenn
Gelegenheit zu einer derartigen Wechselwirkung der Theile im
Innern gegeben ist. Kann der Staat nicht bestehen, wenn die
Staatsbürger allenthalben unter einander wetteifern und blos
die Tüchtigsten zu allgemeinerem Einfluss auf das Geschehen
gelangen? Ist nun aber im Organismus Gelegenheit zu einer
derartigen Wechselwirkung der Theile gegeben? Das ist die
Frage, von welcher in erster Instanz alles abhängen muss.

Zunächst ist zur Beantwortung derselben zu erwähnen, dass
selbst in den höchsten Organismen die Centralisation zum Gan-
zen gar nicht eine so vollkommene, wie man sie sich noch oft
vorstellt, nicht derartig ist, dass alle Theile nur in dem Orga-
nismus, welchem sie angehören, und nur an der Stelle ihres
normalen Sitzes bestehen könnten und somit, vollkommen in
Abhängigkeit, nur als Theile des Ganzen in fest normirter
Weise zu leben vermöchten.

Virchow hat schon vor fast dreissig Jahren1) auf die Selbst-
ständigkeit der Zellen hingewiesen, und die Transplantations-
fähigkeit von Zellen des einen Organismus auf den anderen
und von einer Stelle desselben Organismus auf eine andere
dafür angeführt. Gegenwärtig sind wir im Stande, Theile der
Oberhaut (Epidermis), ganze Stücke der vollständigen Haut mit
Drüsen und Haaren, ferner der Knochenhaut, der Hornhaut des
Auges und einzelne Haare von einem Individuum vollkommen
losgelöst auf das andere zu übertragen, so dass sie eine Zeit

1) Virchow’s Archiv f. patholog. Anat. u. Physiol. Bd. IV. 1852.
p. 378.
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[65/0079] A. Begründung. »Der Streit ist der Vater der Dinge«, sagt Heraklit, und die Folgerungen, welche Empedocles, Darwin und Wal- lace aus diesem Principe abgeleitet haben, sind bekannt und im vorigen Capitel besprochen. Wie dort der Kampf der Gan- zen zum Uebrigbleiben des Besten führte, so kann er es wohl auch unter den Theilen gethan haben und noch thun, wenn Gelegenheit zu einer derartigen Wechselwirkung der Theile im Innern gegeben ist. Kann der Staat nicht bestehen, wenn die Staatsbürger allenthalben unter einander wetteifern und blos die Tüchtigsten zu allgemeinerem Einfluss auf das Geschehen gelangen? Ist nun aber im Organismus Gelegenheit zu einer derartigen Wechselwirkung der Theile gegeben? Das ist die Frage, von welcher in erster Instanz alles abhängen muss. Zunächst ist zur Beantwortung derselben zu erwähnen, dass selbst in den höchsten Organismen die Centralisation zum Gan- zen gar nicht eine so vollkommene, wie man sie sich noch oft vorstellt, nicht derartig ist, dass alle Theile nur in dem Orga- nismus, welchem sie angehören, und nur an der Stelle ihres normalen Sitzes bestehen könnten und somit, vollkommen in Abhängigkeit, nur als Theile des Ganzen in fest normirter Weise zu leben vermöchten. Virchow hat schon vor fast dreissig Jahren 1) auf die Selbst- ständigkeit der Zellen hingewiesen, und die Transplantations- fähigkeit von Zellen des einen Organismus auf den anderen und von einer Stelle desselben Organismus auf eine andere dafür angeführt. Gegenwärtig sind wir im Stande, Theile der Oberhaut (Epidermis), ganze Stücke der vollständigen Haut mit Drüsen und Haaren, ferner der Knochenhaut, der Hornhaut des Auges und einzelne Haare von einem Individuum vollkommen losgelöst auf das andere zu übertragen, so dass sie eine Zeit 1) Virchow’s Archiv f. patholog. Anat. u. Physiol. Bd. IV. 1852. p. 378. Roux, Kampf der Theile. 5

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Zitationshilfe: Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881/79>, abgerufen am 29.03.2024.