Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite
72.
Gleichgültig findet mich der Lenz zum erstenmal,
Alsob ich älter sei als Wald und Berg und Thal.
Da Wald und Berg und Thal, die alten, sich erneun,
Wie sollte sich nicht neu das alte Herz auch freun?
Ein halb Jahrhundert lang freut' ich mich Jahr um Jahr,
Und wardst du nun so alt in diesem einz'gen gar?
Nein! sondern weil ein Bild des Frühlings in mir steht,
Vor welchem das zu Nichts, das draußen steht, vergeht.

73.
Wenn eingetroffen ist ein unverhofftes Hoffen;
Eh er beglückt sich fühlt, fühlt sich der Geist betroffen;
Wie, wer vom Schlaf erwacht, sich fühlet erst betäubt,
Dann der Aurikel gleich von frischem Duft bestäubt;
Und wie die Blume selbst, wann Regen kommt, erschrickt
Vor der Erquickung, eh sie still sich fühlt erquickt.


4*
72.
Gleichguͤltig findet mich der Lenz zum erſtenmal,
Alsob ich aͤlter ſei als Wald und Berg und Thal.
Da Wald und Berg und Thal, die alten, ſich erneun,
Wie ſollte ſich nicht neu das alte Herz auch freun?
Ein halb Jahrhundert lang freut' ich mich Jahr um Jahr,
Und wardſt du nun ſo alt in dieſem einz'gen gar?
Nein! ſondern weil ein Bild des Fruͤhlings in mir ſteht,
Vor welchem das zu Nichts, das draußen ſteht, vergeht.

73.
Wenn eingetroffen iſt ein unverhofftes Hoffen;
Eh er begluͤckt ſich fuͤhlt, fuͤhlt ſich der Geiſt betroffen;
Wie, wer vom Schlaf erwacht, ſich fuͤhlet erſt betaͤubt,
Dann der Aurikel gleich von friſchem Duft beſtaͤubt;
Und wie die Blume ſelbſt, wann Regen kommt, erſchrickt
Vor der Erquickung, eh ſie ſtill ſich fuͤhlt erquickt.


4*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0085" n="75"/>
        <div n="2">
          <head>72.</head><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Gleichgu&#x0364;ltig findet mich der Lenz zum er&#x017F;tenmal,</l><lb/>
              <l>Alsob ich a&#x0364;lter &#x017F;ei als Wald und Berg und Thal.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Da Wald und Berg und Thal, die alten, &#x017F;ich erneun,</l><lb/>
              <l>Wie &#x017F;ollte &#x017F;ich nicht neu das alte Herz auch freun?</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="3">
              <l>Ein halb Jahrhundert lang freut' ich mich Jahr um Jahr,</l><lb/>
              <l>Und ward&#x017F;t du nun &#x017F;o alt in die&#x017F;em einz'gen gar?</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="4">
              <l>Nein! &#x017F;ondern weil ein Bild des Fru&#x0364;hlings in mir &#x017F;teht,</l><lb/>
              <l>Vor welchem das zu Nichts, das draußen &#x017F;teht, vergeht.</l>
            </lg><lb/>
          </lg>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>73.</head><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Wenn eingetroffen i&#x017F;t ein unverhofftes Hoffen;</l><lb/>
              <l>Eh er beglu&#x0364;ckt &#x017F;ich fu&#x0364;hlt, fu&#x0364;hlt &#x017F;ich der Gei&#x017F;t betroffen;</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Wie, wer vom Schlaf erwacht, &#x017F;ich fu&#x0364;hlet er&#x017F;t beta&#x0364;ubt,</l><lb/>
              <l>Dann der Aurikel gleich von fri&#x017F;chem Duft be&#x017F;ta&#x0364;ubt;</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="3">
              <l>Und wie die Blume &#x017F;elb&#x017F;t, wann Regen kommt, er&#x017F;chrickt</l><lb/>
              <l>Vor der Erquickung, eh &#x017F;ie &#x017F;till &#x017F;ich fu&#x0364;hlt erquickt.</l>
            </lg><lb/>
          </lg>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <fw place="bottom" type="sig">4*</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0085] 72. Gleichguͤltig findet mich der Lenz zum erſtenmal, Alsob ich aͤlter ſei als Wald und Berg und Thal. Da Wald und Berg und Thal, die alten, ſich erneun, Wie ſollte ſich nicht neu das alte Herz auch freun? Ein halb Jahrhundert lang freut' ich mich Jahr um Jahr, Und wardſt du nun ſo alt in dieſem einz'gen gar? Nein! ſondern weil ein Bild des Fruͤhlings in mir ſteht, Vor welchem das zu Nichts, das draußen ſteht, vergeht. 73. Wenn eingetroffen iſt ein unverhofftes Hoffen; Eh er begluͤckt ſich fuͤhlt, fuͤhlt ſich der Geiſt betroffen; Wie, wer vom Schlaf erwacht, ſich fuͤhlet erſt betaͤubt, Dann der Aurikel gleich von friſchem Duft beſtaͤubt; Und wie die Blume ſelbſt, wann Regen kommt, erſchrickt Vor der Erquickung, eh ſie ſtill ſich fuͤhlt erquickt. 4*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane05_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane05_1839/85
Zitationshilfe: Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane05_1839/85>, abgerufen am 25.04.2024.