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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Zweyter Abschnitt.
und Ohr: du must die Gegenwart nicht zur
Richterinn über die Zukunft machen: auf
Regen folgt Sonnenschein, und das erder-
schütternde Donnerwetter verliert sich in eine
feyerliche, liebliche Stille."

Was du nun dem Knaben sagtest, das
predigt dir die ganze Natur laut in dein
Herz:

"Harre aus -- der Leiden jedes löset
sich frühe oder späte in eine nie gefühlte
Freude auf.

Denke doch zurück auf die größte Freu-
de, die dir in deinem Leben geworden ist.
Wenn du in der Stunde dieser deiner Ent-
zückung gedacht hättest: für mich wächst
nun kein Leiden mehr: ewig, ewig schwimm'
ich im Freudenmeere; wär' in diesem Ur-
theile Wahrheit gewesen? Nein, denn es
sind auf jene heitern Tage wirklich viele
trübe Stunden gefolget. So kann denn
auch das entgegen gesetzte Urtheil, in dem
entgegen gesetzten Zustande, in der Stunde
des heissesten Leidens: für mich kömmt kei-
ne Freude mehr,
unmöglich gewisse Wahr-
heit seyn.

Ich

Zweyter Abſchnitt.
und Ohr: du muſt die Gegenwart nicht zur
Richterinn uͤber die Zukunft machen: auf
Regen folgt Sonnenſchein, und das erder-
ſchuͤtternde Donnerwetter verliert ſich in eine
feyerliche, liebliche Stille.“

Was du nun dem Knaben ſagteſt, das
predigt dir die ganze Natur laut in dein
Herz:

„Harre aus — der Leiden jedes loͤſet
ſich fruͤhe oder ſpaͤte in eine nie gefuͤhlte
Freude auf.

Denke doch zuruͤck auf die groͤßte Freu-
de, die dir in deinem Leben geworden iſt.
Wenn du in der Stunde dieſer deiner Ent-
zuͤckung gedacht haͤtteſt: fuͤr mich waͤchst
nun kein Leiden mehr: ewig, ewig ſchwimm’
ich im Freudenmeere; waͤr’ in dieſem Ur-
theile Wahrheit geweſen? Nein, denn es
ſind auf jene heitern Tage wirklich viele
truͤbe Stunden gefolget. So kann denn
auch das entgegen geſetzte Urtheil, in dem
entgegen geſetzten Zuſtande, in der Stunde
des heiſſeſten Leidens: fuͤr mich koͤmmt kei-
ne Freude mehr,
unmoͤglich gewiſſe Wahr-
heit ſeyn.

Ich
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[86/0098] Zweyter Abſchnitt. und Ohr: du muſt die Gegenwart nicht zur Richterinn uͤber die Zukunft machen: auf Regen folgt Sonnenſchein, und das erder- ſchuͤtternde Donnerwetter verliert ſich in eine feyerliche, liebliche Stille.“ Was du nun dem Knaben ſagteſt, das predigt dir die ganze Natur laut in dein Herz: „Harre aus — der Leiden jedes loͤſet ſich fruͤhe oder ſpaͤte in eine nie gefuͤhlte Freude auf. Denke doch zuruͤck auf die groͤßte Freu- de, die dir in deinem Leben geworden iſt. Wenn du in der Stunde dieſer deiner Ent- zuͤckung gedacht haͤtteſt: fuͤr mich waͤchst nun kein Leiden mehr: ewig, ewig ſchwimm’ ich im Freudenmeere; waͤr’ in dieſem Ur- theile Wahrheit geweſen? Nein, denn es ſind auf jene heitern Tage wirklich viele truͤbe Stunden gefolget. So kann denn auch das entgegen geſetzte Urtheil, in dem entgegen geſetzten Zuſtande, in der Stunde des heiſſeſten Leidens: fuͤr mich koͤmmt kei- ne Freude mehr, unmoͤglich gewiſſe Wahr- heit ſeyn. Ich

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/98>, abgerufen am 16.04.2024.