Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Textil-Industrie.
Die Seidenspinnerei.

Spricht man von Seidenspinnereien, so versteht man darunter vielfach
diejenigen Anstalten, welche sich mit dem Abhaspeln der Cocons und der
Verarbeitung der Fäden zu Rohseide, Grege, befassen, obgleich eine
Spinnerei im eigentlichen Sinne wegen des fertig auf dem Cocon befind-
lichen Fadens nicht erforderlich ist. Doch hat sich das so eingebürgert.
Streng genommen sollte die Bezeichnung Seidenspinnerei nur denjenigen
fabrikativen Etablissements zukommen, die die Floret- oder Chappeseide
und die Bouretteseide bereiten, welche einem wirklichen Spinnprozeß
unterliegen; doch bezeichnet man solche Spinnereien als Floret- oder
Chappespinnereien und als Bourettespinnereien. Die zum Abhaspeln
bestimmten Cocons werden in drei Klassen geteilt: die schönsten, festesten,
seidenreichsten, welche den feinsten und glänzendsten Faden liefern,
dienen zur Anfertigung der Kettenseide, Organzin, diejenigen von
mittlerer Güte und Stärke geben die Schußseide, Trama, und die
schwächsten Cocons mit grobem Faden liefern die Pelseide, eine zum
Stricken, Nähen und dergleichen verwendete Seide. Das Abhaspeln
geschah in den ältesten Zeiten in der Weise, daß die Cocons in ein
Gefäß mit warmem Wasser geworfen, die Fadenanfänge derselben durch
Klopfen oder Schlagen mit einer Rute oder einem Stäbchen auf-
gefangen und die Fäden zu 3 bis 8 und mehr durch ein Auge ge-
zogen wurden, wobei sie zu einem einzigen Faden zusammenleimten.
Der so gewonnene Faden wurde auf einem Haspel aufgewickelt. War
einer der Cocons abgehaspelt, so mußte ein neuer angeworfen werden.
Auch heute geschieht das Abhaspeln noch in gleicher Weise, doch sind
die Apparate, welche dazu verhelfen, nicht mehr so primitiv, wie ehedem.
Vielfach führen die Arbeit aber Maschinen aus, welche mechanische
Seidenhaspel heißen. Der Haspel, welcher den Faden aufzunehmen hat,
wird mechanisch betrieben, die Arbeiterin hat nur die geleerten Cocons
durch Anwerfen frischer zu erneuern und kann gleichzeitig 4 bis 8 Fäden
beherrschen. Auch das Aufsuchen der Fadenanfänge wird mittelst einer
mechanisch bewegten Bürste ausgeführt, obgleich die Handarbeit hierfür
vorzuziehen ist, weil sie weniger Abfall giebt. Die Rohseide-, Grege-
fäden, werden dann noch, bevor sie gezwirnt werden, auf der sog.
Zwirnmühle mehr oder minder stark gedreht, mouliniert, um dem
Spalten in die einzelnen Coconfäden vorzubeugen. -- Aus den Abfällen
beim Abhaspeln der Cocons, ferner den nicht abwickelbaren, fehlerhaften
und schlechten Cocons gewinnt man durch Spinnen die oben berührte
Floret- oder Chappeseide, eine minderwertige Seide, welche jedoch heute
in der Seidenindustrie nicht mehr entbehrlich ist, und aus den bei
dieser Fabrikation entstehenden Rückständen gleichfalls durch Spinnen
die Bouretteseide. So wie man aus wollenen und halbwollenen
Lumpen die Kunstwolle gewinnt, so verwertet man auch die seidenen
und halbseidenen Lumpen in gleicher Weise und erhält den Seiden-

Die Textil-Induſtrie.
Die Seidenſpinnerei.

Spricht man von Seidenſpinnereien, ſo verſteht man darunter vielfach
diejenigen Anſtalten, welche ſich mit dem Abhaſpeln der Cocons und der
Verarbeitung der Fäden zu Rohſeide, Grège, befaſſen, obgleich eine
Spinnerei im eigentlichen Sinne wegen des fertig auf dem Cocon befind-
lichen Fadens nicht erforderlich iſt. Doch hat ſich das ſo eingebürgert.
Streng genommen ſollte die Bezeichnung Seidenſpinnerei nur denjenigen
fabrikativen Etabliſſements zukommen, die die Floret- oder Chappeſeide
und die Bouretteſeide bereiten, welche einem wirklichen Spinnprozeß
unterliegen; doch bezeichnet man ſolche Spinnereien als Floret- oder
Chappeſpinnereien und als Bouretteſpinnereien. Die zum Abhaſpeln
beſtimmten Cocons werden in drei Klaſſen geteilt: die ſchönſten, feſteſten,
ſeidenreichſten, welche den feinſten und glänzendſten Faden liefern,
dienen zur Anfertigung der Kettenſeide, Organzin, diejenigen von
mittlerer Güte und Stärke geben die Schußſeide, Trama, und die
ſchwächſten Cocons mit grobem Faden liefern die Pelſeide, eine zum
Stricken, Nähen und dergleichen verwendete Seide. Das Abhaſpeln
geſchah in den älteſten Zeiten in der Weiſe, daß die Cocons in ein
Gefäß mit warmem Waſſer geworfen, die Fadenanfänge derſelben durch
Klopfen oder Schlagen mit einer Rute oder einem Stäbchen auf-
gefangen und die Fäden zu 3 bis 8 und mehr durch ein Auge ge-
zogen wurden, wobei ſie zu einem einzigen Faden zuſammenleimten.
Der ſo gewonnene Faden wurde auf einem Haſpel aufgewickelt. War
einer der Cocons abgehaſpelt, ſo mußte ein neuer angeworfen werden.
Auch heute geſchieht das Abhaſpeln noch in gleicher Weiſe, doch ſind
die Apparate, welche dazu verhelfen, nicht mehr ſo primitiv, wie ehedem.
Vielfach führen die Arbeit aber Maſchinen aus, welche mechaniſche
Seidenhaſpel heißen. Der Haſpel, welcher den Faden aufzunehmen hat,
wird mechaniſch betrieben, die Arbeiterin hat nur die geleerten Cocons
durch Anwerfen friſcher zu erneuern und kann gleichzeitig 4 bis 8 Fäden
beherrſchen. Auch das Aufſuchen der Fadenanfänge wird mittelſt einer
mechaniſch bewegten Bürſte ausgeführt, obgleich die Handarbeit hierfür
vorzuziehen iſt, weil ſie weniger Abfall giebt. Die Rohſeide-, Grège-
fäden, werden dann noch, bevor ſie gezwirnt werden, auf der ſog.
Zwirnmühle mehr oder minder ſtark gedreht, mouliniert, um dem
Spalten in die einzelnen Coconfäden vorzubeugen. — Aus den Abfällen
beim Abhaſpeln der Cocons, ferner den nicht abwickelbaren, fehlerhaften
und ſchlechten Cocons gewinnt man durch Spinnen die oben berührte
Floret- oder Chappeſeide, eine minderwertige Seide, welche jedoch heute
in der Seideninduſtrie nicht mehr entbehrlich iſt, und aus den bei
dieſer Fabrikation entſtehenden Rückſtänden gleichfalls durch Spinnen
die Bouretteſeide. So wie man aus wollenen und halbwollenen
Lumpen die Kunſtwolle gewinnt, ſo verwertet man auch die ſeidenen
und halbſeidenen Lumpen in gleicher Weiſe und erhält den Seiden-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0382" n="364"/>
          <fw place="top" type="header">Die Textil-Indu&#x017F;trie.</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Die Seiden&#x017F;pinnerei.</hi> </head><lb/>
            <p>Spricht man von Seiden&#x017F;pinnereien, &#x017F;o ver&#x017F;teht man darunter vielfach<lb/>
diejenigen An&#x017F;talten, welche &#x017F;ich mit dem Abha&#x017F;peln der Cocons und der<lb/>
Verarbeitung der Fäden zu Roh&#x017F;eide, Gr<hi rendition="#aq">è</hi>ge, befa&#x017F;&#x017F;en, obgleich eine<lb/>
Spinnerei im eigentlichen Sinne wegen des fertig auf dem Cocon befind-<lb/>
lichen Fadens nicht erforderlich i&#x017F;t. Doch hat &#x017F;ich das &#x017F;o eingebürgert.<lb/>
Streng genommen &#x017F;ollte die Bezeichnung Seiden&#x017F;pinnerei nur denjenigen<lb/>
fabrikativen Etabli&#x017F;&#x017F;ements zukommen, die die Floret- oder Chappe&#x017F;eide<lb/>
und die Bourette&#x017F;eide bereiten, welche einem wirklichen Spinnprozeß<lb/>
unterliegen; doch bezeichnet man &#x017F;olche Spinnereien als Floret- oder<lb/>
Chappe&#x017F;pinnereien und als Bourette&#x017F;pinnereien. Die zum Abha&#x017F;peln<lb/>
be&#x017F;timmten Cocons werden in drei Kla&#x017F;&#x017F;en geteilt: die &#x017F;chön&#x017F;ten, fe&#x017F;te&#x017F;ten,<lb/>
&#x017F;eidenreich&#x017F;ten, welche den fein&#x017F;ten und glänzend&#x017F;ten Faden liefern,<lb/>
dienen zur Anfertigung der Ketten&#x017F;eide, Organzin, diejenigen von<lb/>
mittlerer Güte und Stärke geben die Schuß&#x017F;eide, Trama, und die<lb/>
&#x017F;chwäch&#x017F;ten Cocons mit grobem Faden liefern die Pel&#x017F;eide, eine zum<lb/>
Stricken, Nähen und dergleichen verwendete Seide. Das Abha&#x017F;peln<lb/>
ge&#x017F;chah in den älte&#x017F;ten Zeiten in der Wei&#x017F;e, daß die Cocons in ein<lb/>
Gefäß mit warmem Wa&#x017F;&#x017F;er geworfen, die Fadenanfänge der&#x017F;elben durch<lb/>
Klopfen oder Schlagen mit einer Rute oder einem Stäbchen auf-<lb/>
gefangen und die Fäden zu 3 bis 8 und mehr durch ein Auge ge-<lb/>
zogen wurden, wobei &#x017F;ie zu einem einzigen Faden zu&#x017F;ammenleimten.<lb/>
Der &#x017F;o gewonnene Faden wurde auf einem Ha&#x017F;pel aufgewickelt. War<lb/>
einer der Cocons abgeha&#x017F;pelt, &#x017F;o mußte ein neuer angeworfen werden.<lb/>
Auch heute ge&#x017F;chieht das Abha&#x017F;peln noch in gleicher Wei&#x017F;e, doch &#x017F;ind<lb/>
die Apparate, welche dazu verhelfen, nicht mehr &#x017F;o primitiv, wie ehedem.<lb/>
Vielfach führen die Arbeit aber Ma&#x017F;chinen aus, welche mechani&#x017F;che<lb/>
Seidenha&#x017F;pel heißen. Der Ha&#x017F;pel, welcher den Faden aufzunehmen hat,<lb/>
wird mechani&#x017F;ch betrieben, die Arbeiterin hat nur die geleerten Cocons<lb/>
durch Anwerfen fri&#x017F;cher zu erneuern und kann gleichzeitig 4 bis 8 Fäden<lb/>
beherr&#x017F;chen. Auch das Auf&#x017F;uchen der Fadenanfänge wird mittel&#x017F;t einer<lb/>
mechani&#x017F;ch bewegten Bür&#x017F;te ausgeführt, obgleich die Handarbeit hierfür<lb/>
vorzuziehen i&#x017F;t, weil &#x017F;ie weniger Abfall giebt. Die Roh&#x017F;eide-, Gr<hi rendition="#aq">è</hi>ge-<lb/>
fäden, werden dann noch, bevor &#x017F;ie gezwirnt werden, auf der &#x017F;og.<lb/>
Zwirnmühle mehr oder minder &#x017F;tark gedreht, mouliniert, um dem<lb/>
Spalten in die einzelnen Coconfäden vorzubeugen. &#x2014; Aus den Abfällen<lb/>
beim Abha&#x017F;peln der Cocons, ferner den nicht abwickelbaren, fehlerhaften<lb/>
und &#x017F;chlechten Cocons gewinnt man durch Spinnen die oben berührte<lb/>
Floret- oder Chappe&#x017F;eide, eine minderwertige Seide, welche jedoch heute<lb/>
in der Seidenindu&#x017F;trie nicht mehr entbehrlich i&#x017F;t, und aus den bei<lb/>
die&#x017F;er Fabrikation ent&#x017F;tehenden Rück&#x017F;tänden gleichfalls durch Spinnen<lb/>
die Bourette&#x017F;eide. So wie man aus wollenen und halbwollenen<lb/>
Lumpen die Kun&#x017F;twolle gewinnt, &#x017F;o verwertet man auch die &#x017F;eidenen<lb/>
und halb&#x017F;eidenen Lumpen in gleicher Wei&#x017F;e und erhält den Seiden-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[364/0382] Die Textil-Induſtrie. Die Seidenſpinnerei. Spricht man von Seidenſpinnereien, ſo verſteht man darunter vielfach diejenigen Anſtalten, welche ſich mit dem Abhaſpeln der Cocons und der Verarbeitung der Fäden zu Rohſeide, Grège, befaſſen, obgleich eine Spinnerei im eigentlichen Sinne wegen des fertig auf dem Cocon befind- lichen Fadens nicht erforderlich iſt. Doch hat ſich das ſo eingebürgert. Streng genommen ſollte die Bezeichnung Seidenſpinnerei nur denjenigen fabrikativen Etabliſſements zukommen, die die Floret- oder Chappeſeide und die Bouretteſeide bereiten, welche einem wirklichen Spinnprozeß unterliegen; doch bezeichnet man ſolche Spinnereien als Floret- oder Chappeſpinnereien und als Bouretteſpinnereien. Die zum Abhaſpeln beſtimmten Cocons werden in drei Klaſſen geteilt: die ſchönſten, feſteſten, ſeidenreichſten, welche den feinſten und glänzendſten Faden liefern, dienen zur Anfertigung der Kettenſeide, Organzin, diejenigen von mittlerer Güte und Stärke geben die Schußſeide, Trama, und die ſchwächſten Cocons mit grobem Faden liefern die Pelſeide, eine zum Stricken, Nähen und dergleichen verwendete Seide. Das Abhaſpeln geſchah in den älteſten Zeiten in der Weiſe, daß die Cocons in ein Gefäß mit warmem Waſſer geworfen, die Fadenanfänge derſelben durch Klopfen oder Schlagen mit einer Rute oder einem Stäbchen auf- gefangen und die Fäden zu 3 bis 8 und mehr durch ein Auge ge- zogen wurden, wobei ſie zu einem einzigen Faden zuſammenleimten. Der ſo gewonnene Faden wurde auf einem Haſpel aufgewickelt. War einer der Cocons abgehaſpelt, ſo mußte ein neuer angeworfen werden. Auch heute geſchieht das Abhaſpeln noch in gleicher Weiſe, doch ſind die Apparate, welche dazu verhelfen, nicht mehr ſo primitiv, wie ehedem. Vielfach führen die Arbeit aber Maſchinen aus, welche mechaniſche Seidenhaſpel heißen. Der Haſpel, welcher den Faden aufzunehmen hat, wird mechaniſch betrieben, die Arbeiterin hat nur die geleerten Cocons durch Anwerfen friſcher zu erneuern und kann gleichzeitig 4 bis 8 Fäden beherrſchen. Auch das Aufſuchen der Fadenanfänge wird mittelſt einer mechaniſch bewegten Bürſte ausgeführt, obgleich die Handarbeit hierfür vorzuziehen iſt, weil ſie weniger Abfall giebt. Die Rohſeide-, Grège- fäden, werden dann noch, bevor ſie gezwirnt werden, auf der ſog. Zwirnmühle mehr oder minder ſtark gedreht, mouliniert, um dem Spalten in die einzelnen Coconfäden vorzubeugen. — Aus den Abfällen beim Abhaſpeln der Cocons, ferner den nicht abwickelbaren, fehlerhaften und ſchlechten Cocons gewinnt man durch Spinnen die oben berührte Floret- oder Chappeſeide, eine minderwertige Seide, welche jedoch heute in der Seideninduſtrie nicht mehr entbehrlich iſt, und aus den bei dieſer Fabrikation entſtehenden Rückſtänden gleichfalls durch Spinnen die Bouretteſeide. So wie man aus wollenen und halbwollenen Lumpen die Kunſtwolle gewinnt, ſo verwertet man auch die ſeidenen und halbſeidenen Lumpen in gleicher Weiſe und erhält den Seiden-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/samter_erfindungen_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/samter_erfindungen_1896/382
Zitationshilfe: Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/samter_erfindungen_1896/382>, abgerufen am 28.03.2024.