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Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783.

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hundertmahl gesehen, setzen sich so hart so eng auf einen
hinauf, daß man der Einladungen endlich überdrüssig
wird. Sie küssen nach dem Tanz den Mannspersonen
die Hand, klopfen einen sanft auf den Backen etc. J'ai
faim des garcons,
sagte unter andern eine, und viele
andre garstige Ausbrüche der Frechheit und der gröbsten
Sauerei mehr. Man muß gar kein Gefühl und keinen
Funken von Menschenfreundschaft haben, wenn man hier
selber leichtsinnig werden will. Ich wuste nicht, was ich
denken, was ich sagen sollte. -- Es war ein junges
Weibsbild da, das schon 2. Kinder gehabt hatte, wie sie
selber sagte, und durch den frühen Mißbrauch an Ver-
stand und Sinnen, für mich zur niederschlagenden Be-
stätigung der Tissotschen Wahrnehmungen, geschwächt
war. Sie sah an Händen und im Gesicht so mager,
so abgezehrt, und bleich aus, daß man sie für 60jährig
hätte halten sollen. In ihren Augen, womit sie noch
spielen wolte, war ein mattes, verloschenes Feuer, -- ganz
das klägliche Bild von den Strafen, womit die Natur
züchtigt, -- und doch noch immer ein Herz voll unersättlicher
Lüsternheit, vielleicht ohne die geringste Anlage zur mora-
lischen Besserung. Man durfte sie nur ansehen, wenn
man ernsthaft bleiben wolte. Aber so gros, so zügellos
ist die Wildheit hier, daß ich wenigstens sechs kleine jun-
ge Mädchen von 11. -- 12. Jahren bemerken konnte,
die schon jetzt zu eben diesen traurigen Bestimmungen ge-
bildet wurden. So vielen lastbaren Thieren, die den
ganzen Tag in der Stadt unter Hunger und Durst be-
ständig den Willen andrer Menschen thun, und die
schlechtesten Dienste, so lang sie leben, verrichten müssen,
möchte man wohl Tanz und Freiheit gönnen; aber sollte
nicht die Polizei Aufsicht auf diese Plätze der Belustigung

tragen,

hundertmahl geſehen, ſetzen ſich ſo hart ſo eng auf einen
hinauf, daß man der Einladungen endlich uͤberdruͤſſig
wird. Sie kuͤſſen nach dem Tanz den Mannsperſonen
die Hand, klopfen einen ſanft auf den Backen ꝛc. J’ai
faim des garçons,
ſagte unter andern eine, und viele
andre garſtige Ausbruͤche der Frechheit und der groͤbſten
Sauerei mehr. Man muß gar kein Gefuͤhl und keinen
Funken von Menſchenfreundſchaft haben, wenn man hier
ſelber leichtſinnig werden will. Ich wuſte nicht, was ich
denken, was ich ſagen ſollte. — Es war ein junges
Weibsbild da, das ſchon 2. Kinder gehabt hatte, wie ſie
ſelber ſagte, und durch den fruͤhen Mißbrauch an Ver-
ſtand und Sinnen, fuͤr mich zur niederſchlagenden Be-
ſtaͤtigung der Tiſſotſchen Wahrnehmungen, geſchwaͤcht
war. Sie ſah an Haͤnden und im Geſicht ſo mager,
ſo abgezehrt, und bleich aus, daß man ſie fuͤr 60jaͤhrig
haͤtte halten ſollen. In ihren Augen, womit ſie noch
ſpielen wolte, war ein mattes, verloſchenes Feuer, — ganz
das klaͤgliche Bild von den Strafen, womit die Natur
zuͤchtigt, — und doch noch immer ein Herz voll unerſaͤttlicher
Luͤſternheit, vielleicht ohne die geringſte Anlage zur mora-
liſchen Beſſerung. Man durfte ſie nur anſehen, wenn
man ernſthaft bleiben wolte. Aber ſo gros, ſo zuͤgellos
iſt die Wildheit hier, daß ich wenigſtens ſechs kleine jun-
ge Maͤdchen von 11. — 12. Jahren bemerken konnte,
die ſchon jetzt zu eben dieſen traurigen Beſtimmungen ge-
bildet wurden. So vielen laſtbaren Thieren, die den
ganzen Tag in der Stadt unter Hunger und Durſt be-
ſtaͤndig den Willen andrer Menſchen thun, und die
ſchlechteſten Dienſte, ſo lang ſie leben, verrichten muͤſſen,
moͤchte man wohl Tanz und Freiheit goͤnnen; aber ſollte
nicht die Polizei Aufſicht auf dieſe Plaͤtze der Beluſtigung

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[138/0162] hundertmahl geſehen, ſetzen ſich ſo hart ſo eng auf einen hinauf, daß man der Einladungen endlich uͤberdruͤſſig wird. Sie kuͤſſen nach dem Tanz den Mannsperſonen die Hand, klopfen einen ſanft auf den Backen ꝛc. J’ai faim des garçons, ſagte unter andern eine, und viele andre garſtige Ausbruͤche der Frechheit und der groͤbſten Sauerei mehr. Man muß gar kein Gefuͤhl und keinen Funken von Menſchenfreundſchaft haben, wenn man hier ſelber leichtſinnig werden will. Ich wuſte nicht, was ich denken, was ich ſagen ſollte. — Es war ein junges Weibsbild da, das ſchon 2. Kinder gehabt hatte, wie ſie ſelber ſagte, und durch den fruͤhen Mißbrauch an Ver- ſtand und Sinnen, fuͤr mich zur niederſchlagenden Be- ſtaͤtigung der Tiſſotſchen Wahrnehmungen, geſchwaͤcht war. Sie ſah an Haͤnden und im Geſicht ſo mager, ſo abgezehrt, und bleich aus, daß man ſie fuͤr 60jaͤhrig haͤtte halten ſollen. In ihren Augen, womit ſie noch ſpielen wolte, war ein mattes, verloſchenes Feuer, — ganz das klaͤgliche Bild von den Strafen, womit die Natur zuͤchtigt, — und doch noch immer ein Herz voll unerſaͤttlicher Luͤſternheit, vielleicht ohne die geringſte Anlage zur mora- liſchen Beſſerung. Man durfte ſie nur anſehen, wenn man ernſthaft bleiben wolte. Aber ſo gros, ſo zuͤgellos iſt die Wildheit hier, daß ich wenigſtens ſechs kleine jun- ge Maͤdchen von 11. — 12. Jahren bemerken konnte, die ſchon jetzt zu eben dieſen traurigen Beſtimmungen ge- bildet wurden. So vielen laſtbaren Thieren, die den ganzen Tag in der Stadt unter Hunger und Durſt be- ſtaͤndig den Willen andrer Menſchen thun, und die ſchlechteſten Dienſte, ſo lang ſie leben, verrichten muͤſſen, moͤchte man wohl Tanz und Freiheit goͤnnen; aber ſollte nicht die Polizei Aufſicht auf dieſe Plaͤtze der Beluſtigung tragen,

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung01_1783/162>, abgerufen am 18.04.2024.