Dafür findet sich dieser alte Ausdruck: Willkühr bricht Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemein Recht (l).
§. 46. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. (Lücken. Analogie.)
Finden wir unsre Rechtsquellen zur Entscheidung einer Rechtsfrage nicht zureichend, so haben wir diese Lücke auszufüllen, da die Forderung der Vollständigkeit ein eben so unbedingtes Recht für sich hat, als die der Ein- heit (§ 42). Es fragt sich nur, wo wir diese Ergänzung zu suchen haben. So mannichfaltig über diese Frage der Ausdruck unsrer Schriftsteller erscheint, lassen sie sich doch dem Wesen nach auf zwey Meynungen zurückführen. Nach der ersten Meynung wird ein allgemeines Normalrecht (das Naturrecht) angenommen, welches neben jedem posi- tiven Recht als ein subsidiarisches stehen soll, in ähnlicher Weise wie in Deutschland neben den einzelnen Landes- rechten das Römische. Diese besondere Anwendung einer schon oben im Allgemeinen verworfenen Ansicht (§ 15) bedarf hier keiner neuen Widerlegung. -- Nach der zwey- ten Meynung wird unser positives Recht aus sich selbst ergänzt, indem wir in demselben eine organisch bildende Kraft annehmen. Dieses Verfahren müssen wir nach un- frer Grundansicht des positiven Rechts (§ 5) als das rich-
(l)Eichhorn deutsches Privatrecht § 30.
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Dafür findet ſich dieſer alte Ausdruck: Willkühr bricht Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemein Recht (l).
§. 46. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. (Lücken. Analogie.)
Finden wir unſre Rechtsquellen zur Entſcheidung einer Rechtsfrage nicht zureichend, ſo haben wir dieſe Lücke auszufüllen, da die Forderung der Vollſtändigkeit ein eben ſo unbedingtes Recht für ſich hat, als die der Ein- heit (§ 42). Es fragt ſich nur, wo wir dieſe Ergänzung zu ſuchen haben. So mannichfaltig über dieſe Frage der Ausdruck unſrer Schriftſteller erſcheint, laſſen ſie ſich doch dem Weſen nach auf zwey Meynungen zurückführen. Nach der erſten Meynung wird ein allgemeines Normalrecht (das Naturrecht) angenommen, welches neben jedem poſi- tiven Recht als ein ſubſidiariſches ſtehen ſoll, in ähnlicher Weiſe wie in Deutſchland neben den einzelnen Landes- rechten das Römiſche. Dieſe beſondere Anwendung einer ſchon oben im Allgemeinen verworfenen Anſicht (§ 15) bedarf hier keiner neuen Widerlegung. — Nach der zwey- ten Meynung wird unſer poſitives Recht aus ſich ſelbſt ergänzt, indem wir in demſelben eine organiſch bildende Kraft annehmen. Dieſes Verfahren müſſen wir nach un- frer Grundanſicht des poſitiven Rechts (§ 5) als das rich-
(l)Eichhorn deutſches Privatrecht § 30.
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Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Dafür findet ſich dieſer alte Ausdruck: Willkühr bricht
Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht
gemein Recht (l).
§. 46.
Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.
(Lücken. Analogie.)
Finden wir unſre Rechtsquellen zur Entſcheidung einer
Rechtsfrage nicht zureichend, ſo haben wir dieſe Lücke
auszufüllen, da die Forderung der Vollſtändigkeit ein
eben ſo unbedingtes Recht für ſich hat, als die der Ein-
heit (§ 42). Es fragt ſich nur, wo wir dieſe Ergänzung
zu ſuchen haben. So mannichfaltig über dieſe Frage der
Ausdruck unſrer Schriftſteller erſcheint, laſſen ſie ſich doch
dem Weſen nach auf zwey Meynungen zurückführen. Nach
der erſten Meynung wird ein allgemeines Normalrecht
(das Naturrecht) angenommen, welches neben jedem poſi-
tiven Recht als ein ſubſidiariſches ſtehen ſoll, in ähnlicher
Weiſe wie in Deutſchland neben den einzelnen Landes-
rechten das Römiſche. Dieſe beſondere Anwendung einer
ſchon oben im Allgemeinen verworfenen Anſicht (§ 15)
bedarf hier keiner neuen Widerlegung. — Nach der zwey-
ten Meynung wird unſer poſitives Recht aus ſich ſelbſt
ergänzt, indem wir in demſelben eine organiſch bildende
Kraft annehmen. Dieſes Verfahren müſſen wir nach un-
frer Grundanſicht des poſitiven Rechts (§ 5) als das rich-
(l) Eichhorn deutſches Privatrecht § 30.
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/346>, abgerufen am 24.04.2024.
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