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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840.

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Irrthum und Unwissenheit.
mäßige Wirksamkeit juristischer Thatsachen ausnahmsweise
modificirt werden kann.

Eine solche Einwirkung des Irrthums kommt in der
That vor, und zwar auf zweyerley Weise. Nicht selten
wird dadurch die Rechtsregel selbst bestimmt, so daß das
Daseyn eines richtigen Bewußtseyns unter die Bedingun-
gen der Rechtsänderung unmittelbar aufgenommen wird,
und also der Fall des Irrthums von der Anwendung der
Regel ausdrücklich ausgeschlossen ist (b). In anderen Fäl-
len dagegen kommt das richtige Bewußtseyn als Bedin-
gung der Rechtsänderung nicht vor, es ist also nicht schon
unmittelbar Bestandtheil der Rechtsregel selbst; allein es
ist anderwärts anerkannt, daß der Irrthum die gewöhn-
liche Anwendung der Regel modificiren, daß er eine Aus-

(b) So z. B. sagte das Edict:
"Quae dolo malo facta esse di-
centur .. judicium dabo." L. 1
§ 1 de dolo
(4. 3.). Der Begriff
des dolus begreift Bewußtseyn
und Absicht in sich, schließt also
den Fall des Irrthums von selbst
aus. -- Die Formel der Erbein-
setzung cum cretione war diese:
"cernitoque in centum diebus
"proxumis, quibus scies pote-
"risque." (Gajus II.
§ 165).
Sehr wahrscheinlich sprach eben
so das Edict, indem es für die
agnitio der B. P. eine Zeit von
100 Tagen oder einem Jahr vor-
schrieb. (L. 1 § 1 h. t., L. 10
de B. P. 37. 1.).
Der Richter
also, der den Verlust der B. P.
ohne Rücksicht auf Unwissenheit
aussprechen wollte, würde schon
den bloßen Buchstaben der Rechts-
regel eben so willkührlich ver-
letzen, wie wenn er 80 Tage an-
statt 100 als hinreichend für die-
sen Verlust annähme. -- Eben
so ist die Infamie Demjenigen
gedroht, der eine Wittwe vor Ab-
lauf des Trauerjahrs wissentlich
heurathet ("sciens .. uxorem
duxerit" L. 1 de his qui not.

3. 2.). Dadurch ist also der Fall
einer aus Irrthum über jene That-
sache geschlossenen Ehe schon wört-
lich ausgeschlossen. -- Am häufig-
sten ist in eigentlichen Strafge-
setzen die Formel sciens dolo
malo.
Vergl. Rudorff Zeit-
schrift für geschichtl. Rechtswis-
senschaft B. 9 S. 396.

Irrthum und Unwiſſenheit.
mäßige Wirkſamkeit juriſtiſcher Thatſachen ausnahmsweiſe
modificirt werden kann.

Eine ſolche Einwirkung des Irrthums kommt in der
That vor, und zwar auf zweyerley Weiſe. Nicht ſelten
wird dadurch die Rechtsregel ſelbſt beſtimmt, ſo daß das
Daſeyn eines richtigen Bewußtſeyns unter die Bedingun-
gen der Rechtsänderung unmittelbar aufgenommen wird,
und alſo der Fall des Irrthums von der Anwendung der
Regel ausdrücklich ausgeſchloſſen iſt (b). In anderen Fäl-
len dagegen kommt das richtige Bewußtſeyn als Bedin-
gung der Rechtsänderung nicht vor, es iſt alſo nicht ſchon
unmittelbar Beſtandtheil der Rechtsregel ſelbſt; allein es
iſt anderwärts anerkannt, daß der Irrthum die gewöhn-
liche Anwendung der Regel modificiren, daß er eine Aus-

(b) So z. B. ſagte das Edict:
„Quae dolo malo facta esse di-
centur .. judicium dabo.” L. 1
§ 1 de dolo
(4. 3.). Der Begriff
des dolus begreift Bewußtſeyn
und Abſicht in ſich, ſchließt alſo
den Fall des Irrthums von ſelbſt
aus. — Die Formel der Erbein-
ſetzung cum cretione war dieſe:
„cernitoque in centum diebus
„proxumis, quibus scies pote-
„risque.” (Gajus II.
§ 165).
Sehr wahrſcheinlich ſprach eben
ſo das Edict, indem es für die
agnitio der B. P. eine Zeit von
100 Tagen oder einem Jahr vor-
ſchrieb. (L. 1 § 1 h. t., L. 10
de B. P. 37. 1.).
Der Richter
alſo, der den Verluſt der B. P.
ohne Rückſicht auf Unwiſſenheit
ausſprechen wollte, würde ſchon
den bloßen Buchſtaben der Rechts-
regel eben ſo willkührlich ver-
letzen, wie wenn er 80 Tage an-
ſtatt 100 als hinreichend für die-
ſen Verluſt annähme. — Eben
ſo iſt die Infamie Demjenigen
gedroht, der eine Wittwe vor Ab-
lauf des Trauerjahrs wiſſentlich
heurathet („sciens .. uxorem
duxerit” L. 1 de his qui not.

3. 2.). Dadurch iſt alſo der Fall
einer aus Irrthum über jene That-
ſache geſchloſſenen Ehe ſchon wört-
lich ausgeſchloſſen. — Am häufig-
ſten iſt in eigentlichen Strafge-
ſetzen die Formel sciens dolo
malo.
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ſchrift für geſchichtl. Rechtswiſ-
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[329/0341] Irrthum und Unwiſſenheit. mäßige Wirkſamkeit juriſtiſcher Thatſachen ausnahmsweiſe modificirt werden kann. Eine ſolche Einwirkung des Irrthums kommt in der That vor, und zwar auf zweyerley Weiſe. Nicht ſelten wird dadurch die Rechtsregel ſelbſt beſtimmt, ſo daß das Daſeyn eines richtigen Bewußtſeyns unter die Bedingun- gen der Rechtsänderung unmittelbar aufgenommen wird, und alſo der Fall des Irrthums von der Anwendung der Regel ausdrücklich ausgeſchloſſen iſt (b). In anderen Fäl- len dagegen kommt das richtige Bewußtſeyn als Bedin- gung der Rechtsänderung nicht vor, es iſt alſo nicht ſchon unmittelbar Beſtandtheil der Rechtsregel ſelbſt; allein es iſt anderwärts anerkannt, daß der Irrthum die gewöhn- liche Anwendung der Regel modificiren, daß er eine Aus- (b) So z. B. ſagte das Edict: „Quae dolo malo facta esse di- centur .. judicium dabo.” L. 1 § 1 de dolo (4. 3.). Der Begriff des dolus begreift Bewußtſeyn und Abſicht in ſich, ſchließt alſo den Fall des Irrthums von ſelbſt aus. — Die Formel der Erbein- ſetzung cum cretione war dieſe: „cernitoque in centum diebus „proxumis, quibus scies pote- „risque.” (Gajus II. § 165). Sehr wahrſcheinlich ſprach eben ſo das Edict, indem es für die agnitio der B. P. eine Zeit von 100 Tagen oder einem Jahr vor- ſchrieb. (L. 1 § 1 h. t., L. 10 de B. P. 37. 1.). Der Richter alſo, der den Verluſt der B. P. ohne Rückſicht auf Unwiſſenheit ausſprechen wollte, würde ſchon den bloßen Buchſtaben der Rechts- regel eben ſo willkührlich ver- letzen, wie wenn er 80 Tage an- ſtatt 100 als hinreichend für die- ſen Verluſt annähme. — Eben ſo iſt die Infamie Demjenigen gedroht, der eine Wittwe vor Ab- lauf des Trauerjahrs wiſſentlich heurathet („sciens .. uxorem duxerit” L. 1 de his qui not. 3. 2.). Dadurch iſt alſo der Fall einer aus Irrthum über jene That- ſache geſchloſſenen Ehe ſchon wört- lich ausgeſchloſſen. — Am häufig- ſten iſt in eigentlichen Strafge- ſetzen die Formel sciens dolo malo. Vergl. Rudorff Zeit- ſchrift für geſchichtl. Rechtswiſ- ſenſchaft B. 9 S. 396.

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/341>, abgerufen am 16.04.2024.