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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840.

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Irrthum und Unwissenheit.

In der That also lassen sich beide Regeln auf den
gemeinsamen Grundsatz zurückführen, daß kein Irrthum,
der auf großer Nachlässigkeit beruht, dem Irrenden zu
gut kommen soll, oder, was die Sache von anderer Seite
her ausdrückt, daß nur derjenige Irrthum geltend gemacht
werden darf, den man justus oder probabilis error, justa
ignorantia,
nennen kann (l). Dieser gemeinsame Grund-
satz aber erscheint in der Anwendung verschieden, indem
die Nachlässigkeit bey dem factischen Irrthum als eine be-
sondere Thatsache erwiesen werden muß, anstatt daß sie
sich bey dem Rechtsirrthum von selbst versteht, und nur
durch den Beweis ungewöhnlicher Umstände widerlegt wer-
den kann. Beide Arten des Irrthums stehen also nicht
unter einer verschiedenen Rechtsregel, sondern die Beweis-

quod raro accipiendum est."
Diese letzten Worte könnten an
sich eine dreyfache Bedeutung ha-
ben. Erstlich: nur selten könne
Jemand den Rechtsirrthum ver-
meiden; dieses aber würde au-
genscheinlich falsch seyn, auch mit
den übrigen Stellen völlig im
Widerspruch stehen. Zweytens:
die Meynung des Labeo sey nur
selten als wahr anzunehmen. Ein-
facher und natürlicher ist aber die
dritte Erklärung, nach welcher
Paulus nicht die Meynung des
Labeo bestreitet, sondern ihre An-
wendbarkeit näher bestimmt. Denn
eigentlich liegt in der Behauptung
des Labeo der umgekehrte positive
Satz, daß selbst der Rechtsirrthum
zulässig sey, da wo er nicht ein-
mal durch Erkundigung vermie-
den werden könne. Diesen Satz
nun will Paulus nicht bestreiten,
er bemerkt nur, daß der darin
vorausgesetzte Fall nur selten an-
genommen werden könne, der Satz
selbst also von keiner erheblichen
Anwendung sey.
(l) Über diesen letzten Ausdruck
vgl. L. 11 § 10 de interrog. (11.
1.), L. 42 de R. J. (50. 17.),
L. 25 pr. de prob. (22. 3.),
fer-
ner die in Num. II. Note e ab-
gedruckten Stellen, und (was den
probabilis error betrifft) L. 5
§ 1 pro suo
(41. 10.). -- Das
hier aufgestellte Princip wird im
Allgemeinen auch anerkannt von
Mühlenbruch Archiv B. 2
S. 383.
Irrthum und Unwiſſenheit.

In der That alſo laſſen ſich beide Regeln auf den
gemeinſamen Grundſatz zurückführen, daß kein Irrthum,
der auf großer Nachläſſigkeit beruht, dem Irrenden zu
gut kommen ſoll, oder, was die Sache von anderer Seite
her ausdrückt, daß nur derjenige Irrthum geltend gemacht
werden darf, den man justus oder probabilis error, justa
ignorantia,
nennen kann (l). Dieſer gemeinſame Grund-
ſatz aber erſcheint in der Anwendung verſchieden, indem
die Nachläſſigkeit bey dem factiſchen Irrthum als eine be-
ſondere Thatſache erwieſen werden muß, anſtatt daß ſie
ſich bey dem Rechtsirrthum von ſelbſt verſteht, und nur
durch den Beweis ungewöhnlicher Umſtände widerlegt wer-
den kann. Beide Arten des Irrthums ſtehen alſo nicht
unter einer verſchiedenen Rechtsregel, ſondern die Beweis-

quod raro accipiendum est.
Dieſe letzten Worte könnten an
ſich eine dreyfache Bedeutung ha-
ben. Erſtlich: nur ſelten könne
Jemand den Rechtsirrthum ver-
meiden; dieſes aber würde au-
genſcheinlich falſch ſeyn, auch mit
den übrigen Stellen völlig im
Widerſpruch ſtehen. Zweytens:
die Meynung des Labeo ſey nur
ſelten als wahr anzunehmen. Ein-
facher und natürlicher iſt aber die
dritte Erklärung, nach welcher
Paulus nicht die Meynung des
Labeo beſtreitet, ſondern ihre An-
wendbarkeit näher beſtimmt. Denn
eigentlich liegt in der Behauptung
des Labeo der umgekehrte poſitive
Satz, daß ſelbſt der Rechtsirrthum
zuläſſig ſey, da wo er nicht ein-
mal durch Erkundigung vermie-
den werden könne. Dieſen Satz
nun will Paulus nicht beſtreiten,
er bemerkt nur, daß der darin
vorausgeſetzte Fall nur ſelten an-
genommen werden könne, der Satz
ſelbſt alſo von keiner erheblichen
Anwendung ſey.
(l) Über dieſen letzten Ausdruck
vgl. L. 11 § 10 de interrog. (11.
1.), L. 42 de R. J. (50. 17.),
L. 25 pr. de prob. (22. 3.),
fer-
ner die in Num. II. Note e ab-
gedruckten Stellen, und (was den
probabilis error betrifft) L. 5
§ 1 pro suo
(41. 10.). — Das
hier aufgeſtellte Princip wird im
Allgemeinen auch anerkannt von
Mühlenbruch Archiv B. 2
S. 383.
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[335/0347] Irrthum und Unwiſſenheit. In der That alſo laſſen ſich beide Regeln auf den gemeinſamen Grundſatz zurückführen, daß kein Irrthum, der auf großer Nachläſſigkeit beruht, dem Irrenden zu gut kommen ſoll, oder, was die Sache von anderer Seite her ausdrückt, daß nur derjenige Irrthum geltend gemacht werden darf, den man justus oder probabilis error, justa ignorantia, nennen kann (l). Dieſer gemeinſame Grund- ſatz aber erſcheint in der Anwendung verſchieden, indem die Nachläſſigkeit bey dem factiſchen Irrthum als eine be- ſondere Thatſache erwieſen werden muß, anſtatt daß ſie ſich bey dem Rechtsirrthum von ſelbſt verſteht, und nur durch den Beweis ungewöhnlicher Umſtände widerlegt wer- den kann. Beide Arten des Irrthums ſtehen alſo nicht unter einer verſchiedenen Rechtsregel, ſondern die Beweis- (k) (l) Über dieſen letzten Ausdruck vgl. L. 11 § 10 de interrog. (11. 1.), L. 42 de R. J. (50. 17.), L. 25 pr. de prob. (22. 3.), fer- ner die in Num. II. Note e ab- gedruckten Stellen, und (was den probabilis error betrifft) L. 5 § 1 pro suo (41. 10.). — Das hier aufgeſtellte Princip wird im Allgemeinen auch anerkannt von Mühlenbruch Archiv B. 2 S. 383. (k) quod raro accipiendum est.” Dieſe letzten Worte könnten an ſich eine dreyfache Bedeutung ha- ben. Erſtlich: nur ſelten könne Jemand den Rechtsirrthum ver- meiden; dieſes aber würde au- genſcheinlich falſch ſeyn, auch mit den übrigen Stellen völlig im Widerſpruch ſtehen. Zweytens: die Meynung des Labeo ſey nur ſelten als wahr anzunehmen. Ein- facher und natürlicher iſt aber die dritte Erklärung, nach welcher Paulus nicht die Meynung des Labeo beſtreitet, ſondern ihre An- wendbarkeit näher beſtimmt. Denn eigentlich liegt in der Behauptung des Labeo der umgekehrte poſitive Satz, daß ſelbſt der Rechtsirrthum zuläſſig ſey, da wo er nicht ein- mal durch Erkundigung vermie- den werden könne. Dieſen Satz nun will Paulus nicht beſtreiten, er bemerkt nur, daß der darin vorausgeſetzte Fall nur ſelten an- genommen werden könne, der Satz ſelbſt alſo von keiner erheblichen Anwendung ſey.

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/347>, abgerufen am 19.04.2024.