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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840.

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Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. III. Entstehung und Untergang.
vorliegt (n). Insoferne liegt also auch in der zweyten,
oben verworfenen, Erklärung ein wahres Element, nur
daß sie ganz ohne Noth den Worten Gewalt anthut. Bey
Rechtsgeschäften hat nun diese ganze Unterscheidung ihren
praktischen Werth völlig verloren, seitdem hier die oben
erwähnte benigna interpretatio (Note a) Alles ausgegli-
chen hat. Sie ist daher nur noch bey Delicten erheblich
geblieben, wie dieses im folgenden § bemerkt werden wird.

Zum Behuf der genauen Anwendung der zwey aufge-
stellten Vermuthungen kann man fragen, welches die eigent-
liche Gränze des proximus sey. Darüber findet sich keine
Bestimmung. Will man indessen eine Gränze annehmen,
die doch auf einem allgemeinen Grunde, nicht auf bloßer
Willkühr, beruht, so kann man proximus Denjenigen nen-

(n) Dieser praktische Sinn des
proximus infantiae und puber-
tati
leuchtet deutlich genug aus
solchen Stellen hervor, worin das
so bezeichnete Alter als Kennzei-
chen des Daseyns einer vollstän-
digeren Urtheilsfähigkeit, das heißt
als Vermuthungsgrund dafür, an-
gegeben wird. § 10 J. de inut.
stip.
(3. 19.) "infans et qui in-
fanti proximus est .. nullum
intellectum habent
(Note a). --
§ 18 (al. 20) J. de oblig. ex del.
(4. 1.) "si proximus pubertati
sit et ob id intelligat se delin-
quere." -- L. 4 § 26 de doli exc.
(44. 4.) "doli pupillos, qui pro-
pe pubertatem sunt, capaces
esse."
-- Mit dieser Ansicht über-
einstimmend ist Dirken a. a. O.
Anders verfährt Gensler a. a.
O. Er meynt, die Halbirung des
Zeitraums (nach Accursius) liege
zwar nicht in den Worten, aber
doch im Geiste des R. R., und
zwar in folgendem Sinn. Bey
dem infantiae proximus sey Do-
lus unmöglich, Culpa möglich,
aber erst zu erweisen; der pub.
prox.
sey des Dolus wie der Culpa
fähig, doch werde nur die Culpa
präsumirt, der Dolus müsse er-
wiesen werden; neben beiden Prä-
sumtionen aber gelte stets der
Gegenbeweis. Eine unrömischere
Behandlung der Sache läßt sich
schwer anbringen.

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
vorliegt (n). Inſoferne liegt alſo auch in der zweyten,
oben verworfenen, Erklärung ein wahres Element, nur
daß ſie ganz ohne Noth den Worten Gewalt anthut. Bey
Rechtsgeſchäften hat nun dieſe ganze Unterſcheidung ihren
praktiſchen Werth völlig verloren, ſeitdem hier die oben
erwähnte benigna interpretatio (Note a) Alles ausgegli-
chen hat. Sie iſt daher nur noch bey Delicten erheblich
geblieben, wie dieſes im folgenden § bemerkt werden wird.

Zum Behuf der genauen Anwendung der zwey aufge-
ſtellten Vermuthungen kann man fragen, welches die eigent-
liche Gränze des proximus ſey. Darüber findet ſich keine
Beſtimmung. Will man indeſſen eine Gränze annehmen,
die doch auf einem allgemeinen Grunde, nicht auf bloßer
Willkühr, beruht, ſo kann man proximus Denjenigen nen-

(n) Dieſer praktiſche Sinn des
proximus infantiae und puber-
tati
leuchtet deutlich genug aus
ſolchen Stellen hervor, worin das
ſo bezeichnete Alter als Kennzei-
chen des Daſeyns einer vollſtän-
digeren Urtheilsfähigkeit, das heißt
als Vermuthungsgrund dafür, an-
gegeben wird. § 10 J. de inut.
stip.
(3. 19.) „infans et qui in-
fanti proximus est .. nullum
intellectum habent
(Note a). —
§ 18 (al. 20) J. de oblig. ex del.
(4. 1.) „si proximus pubertati
sit et ob id intelligat se delin-
quere.” — L. 4 § 26 de doli exc.
(44. 4.) „doli pupillos, qui pro-
pe pubertatem sunt, capaces
esse.”
— Mit dieſer Anſicht über-
einſtimmend iſt Dirken a. a. O.
Anders verfährt Gensler a. a.
O. Er meynt, die Halbirung des
Zeitraums (nach Accurſius) liege
zwar nicht in den Worten, aber
doch im Geiſte des R. R., und
zwar in folgendem Sinn. Bey
dem infantiae proximus ſey Do-
lus unmöglich, Culpa möglich,
aber erſt zu erweiſen; der pub.
prox.
ſey des Dolus wie der Culpa
fähig, doch werde nur die Culpa
präſumirt, der Dolus müſſe er-
wieſen werden; neben beiden Prä-
ſumtionen aber gelte ſtets der
Gegenbeweis. Eine unrömiſchere
Behandlung der Sache läßt ſich
ſchwer anbringen.
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[38/0050] Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang. vorliegt (n). Inſoferne liegt alſo auch in der zweyten, oben verworfenen, Erklärung ein wahres Element, nur daß ſie ganz ohne Noth den Worten Gewalt anthut. Bey Rechtsgeſchäften hat nun dieſe ganze Unterſcheidung ihren praktiſchen Werth völlig verloren, ſeitdem hier die oben erwähnte benigna interpretatio (Note a) Alles ausgegli- chen hat. Sie iſt daher nur noch bey Delicten erheblich geblieben, wie dieſes im folgenden § bemerkt werden wird. Zum Behuf der genauen Anwendung der zwey aufge- ſtellten Vermuthungen kann man fragen, welches die eigent- liche Gränze des proximus ſey. Darüber findet ſich keine Beſtimmung. Will man indeſſen eine Gränze annehmen, die doch auf einem allgemeinen Grunde, nicht auf bloßer Willkühr, beruht, ſo kann man proximus Denjenigen nen- (n) Dieſer praktiſche Sinn des proximus infantiae und puber- tati leuchtet deutlich genug aus ſolchen Stellen hervor, worin das ſo bezeichnete Alter als Kennzei- chen des Daſeyns einer vollſtän- digeren Urtheilsfähigkeit, das heißt als Vermuthungsgrund dafür, an- gegeben wird. § 10 J. de inut. stip. (3. 19.) „infans et qui in- fanti proximus est .. nullum intellectum habent (Note a). — § 18 (al. 20) J. de oblig. ex del. (4. 1.) „si proximus pubertati sit et ob id intelligat se delin- quere.” — L. 4 § 26 de doli exc. (44. 4.) „doli pupillos, qui pro- pe pubertatem sunt, capaces esse.” — Mit dieſer Anſicht über- einſtimmend iſt Dirken a. a. O. Anders verfährt Gensler a. a. O. Er meynt, die Halbirung des Zeitraums (nach Accurſius) liege zwar nicht in den Worten, aber doch im Geiſte des R. R., und zwar in folgendem Sinn. Bey dem infantiae proximus ſey Do- lus unmöglich, Culpa möglich, aber erſt zu erweiſen; der pub. prox. ſey des Dolus wie der Culpa fähig, doch werde nur die Culpa präſumirt, der Dolus müſſe er- wieſen werden; neben beiden Prä- ſumtionen aber gelte ſtets der Gegenbeweis. Eine unrömiſchere Behandlung der Sache läßt ſich ſchwer anbringen.

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/50>, abgerufen am 29.03.2024.