Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 8. Berlin, 1849.

Bild:
<< vorherige Seite
Buch III. Herrschaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Die erste Formel lautete so:

Neuen Gesetzen ist keine rückwirkende Kraft
beizulegen.

Zunächst ist die wahre Bedeutung der Rückwirkung
aufzusuchen, die durch diese Formel abgewiesen wer-
den soll.

Es ist augenscheinlich, daß dieselbe nicht in einem buch-
stäblichen, materiellen Sinn aufzufassen ist. Dieser Sinn
würde dahin gehen, daß das Geschehene ungeschehen ge-
macht werden solle. Da nun Dieses an sich unmöglich ist,
so bedarf es keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. --
Vielmehr ist also die Rückwirkung in einem juristischen
oder formellen Sinn aufzufassen, wodurch sie die Bedeu-
tung erhält, daß das rückwirkende Gesetz die Folgen der
vergangenen juristischen Thatsachen unter seine Herrschaft
ziehen, also auf diese Folgen einwirken würde. Eine solche
Rückwirkung aber auf die Folgen der vergangenen That-
sachen läßt sich noch in folgender Abstufung denken:

A. Auf die Folgen allein, die von der Zeit des neuen
Gesetzes künftig eintreten würden.

B. Auf diese Folgen, und zugleich auf die, welche in
die Zwischenzeit zwischen der juristischen Thatsache und dem
neuen Gesetze fallen.

Zwei Beispiele werden diese Rückwirkung anschaulich
machen. -- Wenn in einem Lande, das den Zinsvertrag
ohne Einschränkung zuläßt, ein Gelddarlehen zu zehn Pro-
zent Zinsen gegeben wird, nach drei Jahren aber wird das

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Die erſte Formel lautete ſo:

Neuen Geſetzen iſt keine rückwirkende Kraft
beizulegen.

Zunächſt iſt die wahre Bedeutung der Rückwirkung
aufzuſuchen, die durch dieſe Formel abgewieſen wer-
den ſoll.

Es iſt augenſcheinlich, daß dieſelbe nicht in einem buch-
ſtäblichen, materiellen Sinn aufzufaſſen iſt. Dieſer Sinn
würde dahin gehen, daß das Geſchehene ungeſchehen ge-
macht werden ſolle. Da nun Dieſes an ſich unmöglich iſt,
ſo bedarf es keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. —
Vielmehr iſt alſo die Rückwirkung in einem juriſtiſchen
oder formellen Sinn aufzufaſſen, wodurch ſie die Bedeu-
tung erhält, daß das rückwirkende Geſetz die Folgen der
vergangenen juriſtiſchen Thatſachen unter ſeine Herrſchaft
ziehen, alſo auf dieſe Folgen einwirken würde. Eine ſolche
Rückwirkung aber auf die Folgen der vergangenen That-
ſachen läßt ſich noch in folgender Abſtufung denken:

A. Auf die Folgen allein, die von der Zeit des neuen
Geſetzes künftig eintreten würden.

B. Auf dieſe Folgen, und zugleich auf die, welche in
die Zwiſchenzeit zwiſchen der juriſtiſchen Thatſache und dem
neuen Geſetze fallen.

Zwei Beiſpiele werden dieſe Rückwirkung anſchaulich
machen. — Wenn in einem Lande, das den Zinsvertrag
ohne Einſchränkung zuläßt, ein Gelddarlehen zu zehn Pro-
zent Zinſen gegeben wird, nach drei Jahren aber wird das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0404" n="382"/>
            <fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">III.</hi> Herr&#x017F;chaft der Rechtsregeln. Kap. <hi rendition="#aq">II.</hi> Zeitliche Gränzen.</fw><lb/>
            <p>Die er&#x017F;te Formel lautete &#x017F;o:</p><lb/>
            <list>
              <item>Neuen Ge&#x017F;etzen i&#x017F;t keine rückwirkende Kraft<lb/>
beizulegen.</item>
            </list><lb/>
            <p>Zunäch&#x017F;t i&#x017F;t die wahre Bedeutung der Rückwirkung<lb/>
aufzu&#x017F;uchen, die durch die&#x017F;e Formel abgewie&#x017F;en wer-<lb/>
den &#x017F;oll.</p><lb/>
            <p>Es i&#x017F;t augen&#x017F;cheinlich, daß die&#x017F;elbe nicht in einem buch-<lb/>
&#x017F;täblichen, materiellen Sinn aufzufa&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t. Die&#x017F;er Sinn<lb/>
würde dahin gehen, daß das Ge&#x017F;chehene unge&#x017F;chehen ge-<lb/>
macht werden &#x017F;olle. Da nun Die&#x017F;es an &#x017F;ich unmöglich i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;o bedarf es keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. &#x2014;<lb/>
Vielmehr i&#x017F;t al&#x017F;o die Rückwirkung in einem juri&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
oder formellen Sinn aufzufa&#x017F;&#x017F;en, wodurch &#x017F;ie die Bedeu-<lb/>
tung erhält, daß das rückwirkende Ge&#x017F;etz die <hi rendition="#g">Folgen</hi> der<lb/>
vergangenen juri&#x017F;ti&#x017F;chen That&#x017F;achen unter &#x017F;eine Herr&#x017F;chaft<lb/>
ziehen, al&#x017F;o auf die&#x017F;e Folgen einwirken würde. Eine &#x017F;olche<lb/>
Rückwirkung aber auf die Folgen der vergangenen That-<lb/>
&#x017F;achen läßt &#x017F;ich noch in folgender Ab&#x017F;tufung denken:</p><lb/>
            <p><hi rendition="#aq">A.</hi> Auf die Folgen allein, die von der Zeit des neuen<lb/>
Ge&#x017F;etzes künftig eintreten würden.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#aq">B.</hi> Auf die&#x017F;e Folgen, und zugleich auf die, welche in<lb/>
die Zwi&#x017F;chenzeit zwi&#x017F;chen der juri&#x017F;ti&#x017F;chen That&#x017F;ache und dem<lb/>
neuen Ge&#x017F;etze fallen.</p><lb/>
            <p>Zwei Bei&#x017F;piele werden die&#x017F;e Rückwirkung an&#x017F;chaulich<lb/>
machen. &#x2014; Wenn in einem Lande, das den Zinsvertrag<lb/>
ohne Ein&#x017F;chränkung zuläßt, ein Gelddarlehen zu zehn Pro-<lb/>
zent Zin&#x017F;en gegeben wird, nach drei Jahren aber wird das<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[382/0404] Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen. Die erſte Formel lautete ſo: Neuen Geſetzen iſt keine rückwirkende Kraft beizulegen. Zunächſt iſt die wahre Bedeutung der Rückwirkung aufzuſuchen, die durch dieſe Formel abgewieſen wer- den ſoll. Es iſt augenſcheinlich, daß dieſelbe nicht in einem buch- ſtäblichen, materiellen Sinn aufzufaſſen iſt. Dieſer Sinn würde dahin gehen, daß das Geſchehene ungeſchehen ge- macht werden ſolle. Da nun Dieſes an ſich unmöglich iſt, ſo bedarf es keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. — Vielmehr iſt alſo die Rückwirkung in einem juriſtiſchen oder formellen Sinn aufzufaſſen, wodurch ſie die Bedeu- tung erhält, daß das rückwirkende Geſetz die Folgen der vergangenen juriſtiſchen Thatſachen unter ſeine Herrſchaft ziehen, alſo auf dieſe Folgen einwirken würde. Eine ſolche Rückwirkung aber auf die Folgen der vergangenen That- ſachen läßt ſich noch in folgender Abſtufung denken: A. Auf die Folgen allein, die von der Zeit des neuen Geſetzes künftig eintreten würden. B. Auf dieſe Folgen, und zugleich auf die, welche in die Zwiſchenzeit zwiſchen der juriſtiſchen Thatſache und dem neuen Geſetze fallen. Zwei Beiſpiele werden dieſe Rückwirkung anſchaulich machen. — Wenn in einem Lande, das den Zinsvertrag ohne Einſchränkung zuläßt, ein Gelddarlehen zu zehn Pro- zent Zinſen gegeben wird, nach drei Jahren aber wird das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system08_1849
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system08_1849/404
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 8. Berlin, 1849, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system08_1849/404>, abgerufen am 29.03.2024.